Kapitel 36 - Verfallen

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[COLE]

Es war weit nach Mitternacht, als ich die Wohnungstür aufschloss und Grace sanft über die Schwelle bugsierte. Sie hatte die gesamte Fahrt über wenig gesagt, und auf meine Frage hin, ob ich sie nach Hause fahren sollte, nur den Kopf geschüttelt. Also hatte ich beschlossen, Grace, inklusive ihrem Auto, vorerst zu Lucs und meinem Wohnkomplex zu bringen. Ich hoffte, dass die Jungs inzwischen in der Fabrik angekommen waren, doch bis jetzt hatte ich noch nichts von ihnen gehört.

Kurz nachdem Joel auf dem Basketballfeld dafür gesorgt hatte, dass die Lichter ausgegangen waren, waren wir mit unseren Motorrädern davongefahren. Glücklicherweise hatte der kurze Zeitraum ausgereicht, um in den vielen Gassen vor den Cops unterzutauchen. Während ich die anderen aufgefordert hatte zur Fabrik zu fahren, war ich selbst nur einige Straßen weit gekommen, wo ich mein Motorrad stehen gelassen hatte und zu Fuß zurückgelaufen war.

Der Gedanke an den Moment, in dem sich Grace zwischen mich und den Lauf der Waffe ihres Dads geschoben hatte, sorgte noch immer dafür, dass mein Herzschlag sich beschleunigte.

Wäre ich auf dem Rückweg von der Polizei erwischt worden, hätte es mich wahrscheinlich nicht einmal interessiert. Einzig und allein Grace hatte in dem Moment gezählt. Und ihr jetziger Zustand zeigte mir, dass ich genau richtig gehandelt hatte.

Ich schluckte schwer und sah zu Grace, die bewegungslos auf ihre Sneaker starrte, welche neben meinen Sportschuhen standen. Als ich sie vorsichtig berührte, zuckte sie zusammen und hob den Kopf. Der verschleierte Blick aus ihren wunderschönen, sonst so fröhlichen, grünen Augen zerriss mich.

Fuck. Ich hatte keine Ahnung, wie Grace sich in diesem Moment fühlen musste. Sie hatte sich gegen ihren Vater gestellt, um uns zu helfen. Hatte sie das geplant? Hatte sie aus einem spontanen Impuls heraus gehandelt? Bereute sie es? War sie sauer auf mich? Und vor allem, wieso war sie überhaupt dort gewesen?

Ich zwang alle Fragen, die mir auf der Zunge brannten, zurück, und legte eine Hand auf Graces Rücken, sachter dieses Mal. Ich hatte das Gefühl, dass sie jede Sekunde zerbrechen würde, wenn ich nicht aufpasste. Und das würde ich ab jetzt tun.

Widerstandslos ließ Grace zu, dass ich sie durch den Flur, am Wohnzimmer und der Küche vorbei, in mein Zimmer leitete. Leise öffnete ich die Tür und machte das Licht an. Grace trat in den Raum, schien ihn allerdings nicht einmal richtig wahrzunehmen.

Ich räusperte mich und zwang mich dazu, mein Hand von ihrem Rücken zu nehmen. Immerhin wusste ich nicht, ob sie diese Art von Körperkontakt wollte, oder momentan einfach nicht realisierte. Ich tippte auf Letzteres.

»Ich hole mal etwas zu trinken. Möchtest du was bestimmtes? Oder brauchst du sonst noch irgendwas? Vielleicht etwas zu Essen?« Die Sorge, welche in meiner Stimme mitschwang, war unüberhörbar.

Grace hob den Kopf, und für einen Moment sah ich so etwas wie ein kleines Lächeln auf ihren Lippen. Mein Atem stockte, und ich umfasste sicherheitshalber den Türrahmen.

»Nein, danke.« Ihre Stimme klang brüchig und jagte mir einen Schauer über den Rücken.

»Okay. Ich bin in der Küche, falls was ist. Und du weißt ja, wo das Bad ist, falls du... ins Bad möchtest.«

Ich schlug mir innerlich gegen die Stirn. Wow. Was redete ich hier? Mit einem letzten Blick auf Grace riss ich mich los und überquerte den kleinen Flur, um anschließend in die Küche abzubiegen. Ich atmete tief durch, stützte mich mit den Händen auf der Arbeitsplatte ab und schloss für eine Moment die Augen. Scheiße. Graces Aktion hatte mich vollkommen durcheinander gebracht. Der heutige Tag ähnelte einer Achterbahnfahrt. Einer Achterbahnfahrt der Ereignisse, Emotionen und Gefühle. Und ich saß vorne drin und hatte keine Kontrolle darüber.

Nobody Gotta Know | ✓Where stories live. Discover now