Kapitel 35: Wenn sie hier sind, haben wir ein gewaltiges Problem

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Poline war etwas früher am Bahnhof, als geplant. Sie wollte sich vorbereiten und überlegen, was sie sagen sollte. Am liebsten hätte sie sofort mit James über ihren Verdacht gesprochen, doch sie hielt die ungelöste Spannung, die zwischen den beiden in der Luft lag, nicht länger aus.

Als James also aus seinem Auto stieg und sich ohne jegliche Art der Begrüßung neben sie auf die Bank setzte, entschied sie sich dazu, zuerst darüber mit ihm zu sprechen.

"Hey", begann sie vorsichtig.

"Was gibt's so Dringendes?", meinte James kühl, ohne auf ihre Begrüßung einzugehen.

Seine distanzierte Art ließ sie sich noch schlechter fühlen. Wenn sie das nicht bald klären würden, würde sie noch durchdrehen.

"Ich kann seit dem, was gestern passiert ist, einfach keine Ruhe mehr finden. Es tut mir unglaublich leid, so die Nerven verloren zu haben. Ich weiß selbst nicht, was los war. Es ist alles einfach...verwirrend gerade. Kannst du mir verzeihen?"

Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, in der James nicht antwortete. Sie wollte ihn nicht zu einer Antwort drängen, doch das fiel ihr nicht gerade leicht.

Schließlich seufzte er. "Ist das dann alles?"

Poline war frustriert über seine Reaktion, doch sie wusste, dass er jedes Recht hatte, so zu reagieren. Sie riss sich also zusammen, beließ es dabei und hoffte, dass sie dieses Problem bald aus der Welt schaffen würden. Immerhin war es nicht mehr lange bis zum entscheidenden Tag.

"Eigentlich ist da noch etwas, was ich mit dir besprechen muss", begann sie. "Ich weiß nicht, was los ist, aber meine Freunde benehmen sich irgendwie eigenartig. Also nicht, dass das nicht öfter vorkommt, aber heute war es besonders komisch. Vor allem, weil auch Amber und Anne, die sich eigentlich nie so verhalten..."

"Scheiße", unterbrach James sie.

Nun war sie völlig verwirrt. "Was ist los?"

"Ich wusste, ich hab was vergessen...", murmelte er vor sich hin.

An seiner Stimme konnte Poline erkennen, dass er eindeutig aufgewühlt war. Doch äußerlich ließ er sich nichts anmerken. Stattdessen schweifte sein Blick unauffällig über den Parkplatz.

"Gestern, als ich unser Treffen abgesagt habe, da hab' ich gelogen."

"Was?", meinte Poline vorwurfsvoll. "Aber wieso?"

"Anne und Amber haben dich verfolgt. Ich habe gesehen, wie sie sich hinter einem Auto versteckt und dich beobachtet haben. Deswegen bin ich nicht ausgestiegen, obwohl ich eigentlich schon da war. Dann habe ich dir abgesagt und bin wieder weggefahren."

Poline schluckte. Wieso taten ihre Freunde das? Natürlich war Poline in letzter Zeit nicht besonders ehrlich gewesen, aber war das ein Grund, um sie zu verfolgen? War sie vielleicht doch zu unvorsichtig gewesen, sodass etwas über sie und James durchgesickert war?

Anders konnte sie es sich nicht erklären, ansonsten gäbe es keinen Anlass dazu, ihr zu folgen.

"Denkst du, sie beobachten uns gerade?", fragte sie.

"Schwer zu sagen. An der Stelle von gestern waren sie nicht, da habe ich geparkt. Aber sie könnten ja auch woanders sein", vermutete er, während er seinen Blick erneut über den Parkplatz schweifen ließ.

Poline wollte unbedingt wissen, ob sie gerade von ihren Freundinnen beobachtet wurde, doch sie traute sich nicht, sich umzusehen.

Sie hatte zu sehr Angst davor, sie tatsächlich zu erblicken und Gewissheit darüber zu haben, dass sie ihr absolut nicht vertrauten. Waren sie wirklich dort, so wäre es außerdem zu auffällig gewesen, zur selben Zeit wie James Ausschau nach ihnen zu halten. Also blieb ihr Blick stattdessen kurz an ihm haften.

Sie hatte gestern einen wunden Punkt bei ihm getroffen. Die Stimmung war nun angespannt, doch so blöd diese Situation auch war, sie hoffte, dass sie sie wieder näher zusammenbringen würde.

"Ich sehe sie nicht", sagte James schließlich, "aber das muss ja nichts heißen. Fakt ist, wenn sie hier sind haben wir ein gewaltiges Problem. Es könnte unsere gesamte Beziehung gefährden. Wirklich alles", erklärte er und Poline wusste sofort, dass er damit auf den bevorstehenden Freitag anspielte.

Sie schluckte schwer. Wenn ihre Freunde über ihre Beziehung Bescheid wüssten, wäre der letzte und abschließende Punkt, auf den ihr ganzes Vorhaben hinauslaufen würde, gefährdet. Selbst wenn ansonsten alles nach Plan lief.

"Willst du das denn überhaupt noch?"

"Was?", fragte James verwirrt.

"Na das mit uns. Ich meine, es ist doch wahnsinnig stressig und dann das gestern...Ich würde verstehen, wenn du.."

"Lass das sofort", meinte James bestimmt. "Du hörst mir jetzt ganz genau zu. Nach allem was wir durchgemacht haben gebe ich doch jetzt nicht einfach so auf. Das gestern...das ist blöd gelaufen und hat uns ein bisschen rausgebracht. Aber das heißt doch nicht, dass ich direkt alles wegschmeißen werde. Ich meine es ernst mit dir und wir werden das durchziehen."

Er schaute ihr in die Augen und konnte noch deutlich die Zweifel darin erkennen. Sie hatte Angst davor alleine gelassen zu werden, auch wenn sie das niemals zugeben würde.

Schließlich nickte sie jedoch. "Ich hoffe wirklich, dass sie nicht hier sind. Ich beobachte einfach weiterhin ihr Verhalten und versuche herauszufinden, ob sie etwas wissen."

"Sei aber vorsichtig", ermahnte James sie, was von ihr nur mit einem genervten Blick von der Seite quittiert wurde.

"Ich krieg' das schon hin."

Unauffällig griff sie in ihre Jackentasche und umgriff den Brief, der zusammengeknüllt darin war, mit der Hand. Dann zog sie diese hervor und ergriff James' rechte Hand.

"Es tut mir wirklich leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Denkst du wirklich, wir kriegen das wieder hin?", fragte sie, während sie ihren Griff lockerte, sodass James das Papier an sich nehmen konnte.

Während er den Brief einsteckte überlegte er kurz, was er sagen sollte, schenkte ihr dann aber ein leichtes Lächeln. "Klar, ich komm' schon irgendwie drüber hinweg. Außerdem müssen wir unsere gemeinsame Zeit so gut es geht nutzen. Da bleibt keine Zeit für schmollen."

"Sehe ich genauso", lächelte Poline.

"Du solltest jetzt besser gehen", meinte James auf die Uhr schauend. "Ich weiß, dass du dich nicht gerne hetzt, also solltest du dich auf den Weg machen. Bei deinem üblichen Tempo sollte ungefähr jetzt der passende Zeitpunkt sein, um noch pünktlich anzukommen, aber potentielle nervige Fragen von deinen Freunden zu umgehen."

Poline schaute ihn verblüfft von der Seite an. Sie hatte so einige Fragen (woher wusste er denn, was ihr "übliches Tempo" war?), doch sie sagte nichts dazu.

"Das scheinst du ja genau geplant zu haben", stellte sie fest.

"Wundert dich das noch?"

"Nicht wirklich", grinste sie.

"Gut und jetzt geh...bitte. Meine Berechnungen sollen ja nicht umsonst gewesen sein."

"Berechnungen, ist klar", meinte sie, während sie aufstand und ihren Rucksack aufsetzte.

"Hey, willst du etwa wieder meine Gefühle verletzen?", fragte er gespielt betroffen, was Poline ein leichtes Lachen entlockte.

"Nein, das würde ich mir nie verzeihen", sagte sie ehrlich und sah ihm wieder in die Augen.

Einige Sekunden starrten sie sich einfach nur an, bis James aufstand.

"Ich mein's ernst: Geh jetzt. Wir sehen uns morgen zur Nachhilfe."

Er war so schnell davon gerannt, dass Poline nicht die Möglichkeit hatte, ihn zu fragen, wie sie sich treffen sollten, wenn Vincent keine Option mehr war.

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Forbidden Attraction [Old Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt