Kapitel 44: Abschied

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"Poline! Muss dieser Karton auch mit?"

"Klar muss der mit. Wieso sollte der sonst da stehen?"

Heute war es soweit. Poline würde ihr Elternhaus verlassen und in ihr erstes Eigenheim ziehen. Das Wetter spielte leider nicht mit, doch selbst das konnte ihre Laune an diesem Tag nicht vermiesen. Sie freute sich riesig auf ihre Ausbildung und konnte es kaum erwarten in eine andere Stadt zu ziehen, auch wenn das bedeutete, dass sie ihre Familie und ihre Freunde deutlich seltener sehen würde.

Diese halfen ihr alle zusammen bei ihrem Umzug und unterstützen sie, wo sie nur konnten.

Harry schleppte die meisten Kartons, während die Mädels ihr dabei halfen, ihre restlichen Besitztümer zu verstauen und zu überprüfen, ob sie auch nichts vergessen hatte.

Als schließlich alles in dem weißen Lieferwagen verstaut war, verabschiedete sich Poline zunächst von ihrer Familie.

Die Beziehung zu ihren Eltern war in der letzten Zeit nicht die beste gewesen. Vor allem, als sie ihrer Mutter eröffnet hatte, dass sie die Schule nicht mit einem Abitur beenden, sondern lieber gleich eine Ausbildung machen wollte, gab es Auseinandersetzungen, doch diese konnten glücklicherweise geklärt werden.

Die ganze Sache mit Wallace war ihrer Familie zum Glück erspart geblieben. Zwar war die Geschichte in allen Zeitungen groß aufgerollt worden, da Jules auch einige Tote hinterlassen hatte und Wallace auf der Flucht war, doch Jules war ein Profi und hatte keine Beweise hinterlassen, die auf ihn als Täter schließen lassen würden. Auch Poline wurde nicht mit der Sache in Verbindung gebracht und niemand in der Familie hatte überhaupt gemerkt, dass sie vorhatte, abzuhauen. Eine schnelle Textnachricht mit der Information, dass sie bei Amber schlafen würde hatte gereicht, um keine Sorgen aufkommen zu lassen.

Ihre Mutter konnte nun gar nicht aufhören zu weinen, während ihr Vater versuchte, sie zu beruhigen auch wenn er selbst ein wenig traurig war. Sie wollte nicht wahrhaben, dass ihre kleine Poline schon erwachsen war und sie verlassen würde. Auch Polines Schwestern zeigten sich ungewöhnlich emotional.

"Es wird komisch, wenn du auf einmal nicht mehr da bist."

"Keine Sorge, ich komme euch oft genug besuchen. Ganz weg bin ich also nicht."

"Zumindest so weit, dass ich dein Zimmer haben kann."

"Pfff träum weiter. Das bleibt meins. Ob ich hier bin oder nicht."

Nach einer letzten Umarmung setzte sie sich auf den Beifahrersitz des Vans, in dem neben ihren Kartons auch ihre Freunde auf sie warteten und ließ sich von Harry zu einem weit entfernten Parkplatz im Industriegebiet fahren.

Sie hörten gemeinsam Musik und sagen laut mit während sie versuchten zu verdrängen, dass diese Fahrt für längere Zeit ihr letztes gemeinsames Treffen sein würde.

"Da wären wir", sagte Poline schließlich und schnallte sich ab.

"Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?", wollte Harry wissen. "Sieht sehr...schäbig aus."

"Keine Sorge, das ist schon richtig so."

Poline stieg aus und öffnete die hinteren Türen des Fahrzeugs.

"So Leute, das wär's."

Amber, Tess, Anne, Zoey und Lillian stiegen aus dem Wagen und versammelten sich gemeinsam mit Harry um Poline herum.

"Das ist dann wohl die Stelle, an der wir uns verabschieden müssen", sagte Harry, doch niemand reagierte. "Gut, dann fang ich halt an."

Ohne ein weiteres Wort nahm er Poline in die Arme und hielt sie fest. "Pass auf dich auf. Und wehe du kommst uns nicht ab und zu besuchen."

"Das werde ich, versprochen."

Er ließ von ihr ab und stellte sich zu Amber, welche sichtlich berührt neben Tess stand. Anne, die ebenfalls neben Tess stand, ging als nächstes auf sie zu. Normalerweise war sie nicht auf Körperkontakt bedacht, doch auch sie umarmte Poline.

"Ich werde dich vermissen. Ich hoffe, du kommst uns oft besuchen. Wenn nicht, ist aber auch nicht schlimm."

Poline lachte. "Schön, dass du das nicht so eng siehst."

"Solange du mal vorbeikommst, damit ich dir von dem neuen Buch erzählen kann, das ich gerade lese, bin ich zufrieden", grinste Anne, bevor sie sich wieder zwischen Tess und Zoey gesellte.

Nacheinander verabschiedeten sich so alle von ihr. Auch wenn es von außen komisch wirken musste, wie einer nach dem anderen zu Poline lief und sie umarmte, fühlte sich der Abschied, obwohl er schwer war, ungezwungen und kein bisschen kitschig an.

Als nächstes verabschiedete sich Tess, die ihr alles Gute wünschte und sie daran erinnerte, mal zum Feiern zurückzukommen. Zoey beschwerte sich darüber, mit niemandem mehr über ihre Lieblingsserie reden zu können, doch Poline versprach ihr deshalb regelmäßig zu schreiben.

Lillian schien der Abschied besonders schwer zu fallen. "Ich weiß, zwischendurch hatten wir unsere Differenzen, aber das ändert nichts daran, wie sehr ich dich vermissen werde."

"Hey, ich komme dich oft besuchen. Immerhin muss ich mit dir die Serien noch zu Ende gucken, damit ich nicht auf illegale Streamingdienste umsteigen muss."

Sie lachten und umarmten sich zum Abschied. Als letztes war Amber an der Reihe. Normalerweise war sie nicht der Typ für Gefühle, doch man merkte ihr an, dass ihr der Umgang mit dieser Situation nicht leicht fiel.

"Mann, ich bin wirklich nicht gut in sowas...", begann sie. "Ich sag sowas nicht oft, oder besser gesagt nie. Aber du bist meine beste Freundin und ich hab dich wirklich lieb. Ich hoffe, alles klappt so, wie du es dir vorstellst, auch wenn wir nicht die ganze Zeit dabei sein werden."

Auch sie umarmte Poline und wollte sie schon fast nicht mehr loslassen. Harry konnte sie jedoch zurück in seine Arme ziehen.

"Danke Leute. Auch für die ganze Hilfe beim Umzug und dafür, dass wir immer noch befreundet sind, auch wenn ich euch wirklich oft angelogen habe. Ihr seid die Besten."

Wie auf's Stichwort kam ein schwarzes Auto auf den Parkplatz gefahren und hielt einige Meter hinter ihnen. Jules stieg aus und winkte ihr kurz zu, blieb jedoch bei seinem Wagen stehen.

"So Leute, das ist mein Fahrservice. Ich muss dann–"

"Hey, so schnell kommst du mir nicht davon", sagte Harry. "Wer ist denn der zugegeben gutaussehende Kerl da drüben?"

"Das ist Jules."

"Ah, der Retter in Not. Interessant."

"Ja...aber über deine Beschreibung seines Aussehens lässt sich streiten."

"Gib zu, dass er was hat. Ihr wärt irgendwie süß zusammen." Er pausierte, als er realisierte, dass ein solcher Kommentar vielleicht nicht ganz passend war. Jetzt auf James einzugehen, schien aber auch nicht richtig. "I-ich meine, ein Paar müsst ihr ja nicht gleich werden, aber ein bisschen Spaß kann man immer–"

Poline unterbrach ihn mit einem Lachen. "Du kennst die Geschichte Harry, ansonsten ist da nichts."

"Ja, schon klar", grinste er.

Poline sah erneut zu Jules, bevor sie sich zurück zu ihren Freunden drehte. "Wirklich nochmal danke für alles", lächelte sie in die Runde.

"Kein Ding, Kleines", sagte Harry. "Aber lass dir von deinem Macker da nichts einreden. Du bleibst schön so, wie du bist."

"Als würde ich jemals auf den Tipp eines Mannes hören."

Poline lachte und setzte sich wieder auf den Beifahrersitz des Lieferwagens, während Jules auf der Fahrerseite einsteig.

"Bereit?", fragte er Poline.

"So bereit wie noch nie."

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Forbidden Attraction [Old Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt