14. Kapitel

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14. Kapitel

Sprachlosigkeit. Es ist ein Gefühl der Leere. Keine Gedanken, keine Emotionen dringen zu einem durch. Man kann nichts tun außer atmen und warten das es vorbeigeht. Es ist als würde die Welt plötzlich still stehen. Als hätte sie jemand angehalten wie einen Film. Nur das man in der Zeit nicht das Bild betrachtet und genießt. Im Gegenteil. Man hofft dass es einfach endet. Jemand die Güte hat das Leben wieder voranzutreiben. Aber so etwas passiert nie. Alles was bleibt ist es zu ertragen, bis es endet.

1. Treffen und die zweite Halbwahrheit

Meine Augen ruhten auf Leo, beobachteten sehr genau seine Reaktion, seine Züge während er verarbeite, was ich ihm so eben offenbart hatte. Mir war klar wie hart es für ihn sein musste das alles zu hören. Meine Entscheidung ihm nicht zu sagen wer Anna wirklich gewesen war, kam nicht von ungefähr. Ich wollte ihn nicht gleich mit der gesamten Wucht der Wahrheit treffen, welche sich hinter dem Meterhohen Lügengerüst verbarg, welches unsere Familie umgab. Vielleicht später einmal. Vielleicht auch nie.

Leo schien mit den Informationen zu kämpfen, haderte mit sich und damit wie er reagieren sollte auf die Nachricht dass er eine Schwester verloren hatte. Letztlich entschloss er sich, dass er es nicht verarbeiten wollte, sondern stellte stattdessen seine nächste Frage:

„Wie ging es dir danach? Ich meine ... wie bist du damit klargekommen?"

„Wirklich?", fragte ich überrascht.

„Wirklich was?", gab er atemlos zurück, mit einem müden Ausdruck auf dem Gesicht.

„Das ist deine Frage? Wie ich damit klarkam?", hakte ich nach und hob dabei skeptisch eine Augenbraue.

„Schätze schon", meinte er bloß Achselzuckend.

„Okay", murmelte ich leise und schlenderte weiter den Weg entlang.

Selbst ohne mich zu kennen, schien er sich mehr darum zu sorgen wie es mir ging, als sich selbst. Was süß war, aber irgendwie auch ... unheimlich. Denn ganz gleich wie fürsorglich er mir gegenüber immer gewesen war, so hatte es ihm an Einfühlungsvermögen gefehlt, wenn es um andere Menschen gegangen war. Zwar nicht immer, aber häufig genug.

„Ich ... ich war gebrochen. Wurde allein gelassen mit dem Schmerz und der Trauer über den Verlust. Du bist ... bist zum Militär gegangen sobald du es konntest und John und Eleonora ... sie lebten weiter ohne je darüber zu sprechen. Schleppten uns in ein neues Haus, erlaubten kein einziges Wort über Anna. Also zog ich mich in mich selbst zurück, hörte auf zu essen und zu trinken. Niemand unternahm etwas dagegen. Bis ... bis du eines Tages nach Hause kamst und mich in deinem Zimmer vorfandest. Nur noch aus Haut und Knochen bestehend. Du hast es nicht besonders lustig gefunden mich so zu sehen. Wurdest gepackt von rasender Wut auf die Beiden die eigentlich für mich hätten Sorgen müssen. Statt ihrer hast du für mich gesorgt. Mich dazu gebracht zu essen und zu trinken. Zu ... zu lachen ... etwas Schönes an einer Sache zu finden. Du warst mein Halt, du warst es der dafür sorgte dass ich wieder lebte. Du warst nicht nur mein Bruder, sondern auch mein bester Freund. Mein einziger Freund."

Als Leo in sein Zimmer kam, entdeckte er mich. Ich saß zusammengekauert in einer Ecke und wiegte mich langsam vor und zurück. Ich wollte weinen, konnte aber schon lange nicht mehr. Mein Körper gab keine Tränen mehr her, ganzgleich wie viele ich auch noch vergießen wollte aus lauter Trauer und Schmerz über Annas Verlust.

„Lilly?", fragte er besorgt.

Leo stellte seine Tasche auf dem Bett ab und kam zu mir. Meine Haare waren zerzaust und ganz fettig. Die Haut blass und ich hatte mir die Lippen blutig gebissen. Ich wimmerte leise. Von meinem Anblick vollkommen verstört, kniete Leo sich neben mich und legte eine Hand auf meine Schulter. Ich zuckte zusammen, als hätte er mich geschlagen und presste mich noch enger in die Ecke, beinah so als hätte ich Angst vor ihm. Aber so war es nicht. Ich wollte einfach jemand anderen. Ich wollte meine Schwester. Aber sie würde nie wieder kommen um mich in den Arm zu nehmen, mir vorzulesen oder mir einen Kuss auf die Stirn zu geben.

„Hey", sagte er leise.

Ich sah ihn verschreckt mit glasigen Augen an. Er zog mich sanft in seine Arme und hob mich hoch. Als er mich genauer betrachtete, erkante er wie dünn ich geworden war. Meine Wangenknochen stachen hervor, genau wie meine Wirbelsäule welche durch mein T-Shirt zu erkennen war und die Arme waren dünner, ebenso wie der Rest von mir. Mit langsamen Schritten ging er mit mir zum Bett und setzte sich darauf. Leo wiegte mich leicht hin und her und redete beruhigend auf mich ein.

Ein kleines Lächeln glitt über Leos Züge, dann schüttelte er leicht den Kopf. Während ich gesprochen hatte, hatte er mir aufmerksam zugehört und keine Mine verzogen, jetzt schien es in seinem Kopf zu arbeiten. Die Sache mit Anna war zu viel für ihn gewesen um sich sofort darüber Gedanken zu machen, aber das hier schien ihn augenblicklich zu beschäftigen. Dennoch war ich überrascht über seine Reaktion.

„Was ist?", fragte ich neugierig, aber trotzdem vorsichtig.

„Nichts. Er ist nur ... je mehr du mir erzählst, desto mehr wird mir bewusst, wie nahe wir uns gestanden haben müssen", gestand er zaghaft.

Stirnrunzelnd biss ich mir auf die Unterlippe und blieb stehen. Verwundert hielt Leo inne und sah mich an.

„Du scheinst nicht besonders glücklich darüber zu sein", meinte ich härter als beabsichtigt.

„Das ist es nicht ... ich versuche nur herauszufinden, wie all das mit dem zusammenpasst, dass ...", er brach ab und musterte mein Gesicht, blieb dabei etwas zu lange an meinen Lippen hängen, stieß ein leises Lachen über etwas aus, von dem ich nicht wusste, was es war.

„Ich ... ich brauche einfach Zeit."

„Ich weiß. Es tut mir Leid. Ich wollte nicht ...", setzte ich an, ließ den Rest vom Satz jedoch in der Luft hängen, als würde es sich von selbst erklären was ich meinte.

„Du wolltest nicht was?", fragte Leo dennoch nach.

„Ich wollte dich nicht bedrängen", erklärte ich mich.

„Lilly", begann er, nahm meine linken Hand, strich über mein, unser Tattoo.

„Du bedrängst mich nicht. Du hilfst mir. Und ich weiß das es schwer für dich ist, dass alles noch einmal durchmachen zu müssen, nur damit ich mich vielleicht eines Tages wieder an etwas erinnern kann, zu dem ich im Augenblick keinerlei Bezug habe. Es tut mir wirklich Leid. Ich wünschte du müsstest das alles nicht tun", sagte er traurig und starrte irgendwann nur noch auf unsere verschlungene Finger.

Mein Blick war seinem gefolgt, dennoch hatte ich jedes Wort gehört was er gesagt hatte. Wütend aber auch verzweifelt riss ich mich von ihm los und lief einige Meter von ihm weg. Meinen Namen rufend kam Leo mir nach und stellte sich vor mich, damit ich nicht weiter davon rannte. Fragend schaute er mir tief in die Augen.

„Du musst damit aufhören!", fuhr ich ihn an.

„Mit was?", fragte er mich verständnislos.

„Damit dir ständig Sorgen um mich zu machen! Du kennst mich nicht einmal mehr und trotzdem interessiert es dich nur wie es mir damals ging und jetzt mit all dem was gerade vor sich geht. Du musst an dich denken! An deine Vergangenheit, deine Gegenwart und deine Zukunft! Daran was mit dir passiert ist vor so vielen Jahren und vor Monaten, als du einfach verschwunden bist! Daran wie es jetzt für dich weitergehen soll. Daran wie deine Zukunft aussehen wird! Nicht meine! Dies ist deine Geschichte, nicht meine! Jedenfalls sollte sie es sein!", brüllte ich Leo an und schubste ihn bei jedem Satz ein Stückchen mehr von mir Weg.

Verzweiflung und Ratlosigkeit machten sich in seinem Gesicht breit. Als ich schließlich vom Schubsen zum Schlagen überging, packte er meine Handgelenke zog sie an seine Brust und schlang dann so schnell seine Arme um mich, dass ich keine Chance mehr hatte mich von ihm loszumachen oder weiter auf ihn einzuprügeln, was nach meinem ganzen Training mit Sicherheit wehgetan hatte. Schwer atmend hörte ich auf ihn zu attackieren und ließ mich von ihm halten. Spürte wie er sein Kinn auf meinen Scheitel legte, während ich meinen Kopf gesenkt hatte und an seine Brust presste. Leos Hände strichen mir beruhigend über den Rücken, schickten eine Wärme durch mich hindurch, welche die Hitze der Sonne an diesem Tag verblassen ließ.

Es fühlte sich so gut an. Und so falsch.

„Es tut mir Leid", flüsterte ich leise, kaum hörbar und mit geschlossenen Augen.

„Ich weiß. Ich weiß."

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now