28. Kapitel

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Einen anderen Menschen zu verletzten, bedeutet auch unweigerlich sich selbst zu verletzten. Lilly immer wieder in die Augen zu blicken und ihre Enttäuschung beinah mit den Händen greifen zu können, war genauso. Ich konnte spüren wie sie darunter litt, dass ich nicht den blassesten Schimmer hatte, wer zur Hölle sie eigentlich war. Alles was ich von ihr hatte, waren Träume aus meiner Zeit im irakischen Krankenhaus und zwei, drei Erinnerungsfetzten, die beide immer weniger Sinn ergaben, desto mehr ich darüber nachdachte und mir das Hirn zermarterte.

Sich an nichts erinnern zu können, zumindest an nichts von wirklicher Bedeutung, war im wahrsten Sinne des Wortes Folter und Segen zugleich. Wenn ich daran dachte womit Lilly alles hatte fertig werden müssen, verstand ich, dass sie neidisch darauf war, dass ich nicht eins dieser schlechten Dinge im Gedächtnis behalten hatte. Doch die Grausamkeit der Ahnungslosigkeit ließ mich nicht los. Aufgrund meiner aktuellen Einstufung kam ich an keinerlei Berichte über meine Mission heran. Meine Eltern waren nicht bereit darüber zu sprechen, nur meine Schwester schien Antworten zu kennen und teilen zu wollen. Solange es nicht zu qualvoll für sie wurde, hatte ich auch keinerlei Scham sie nach allem Möglichen zu fragen. Aber das sollte sich schon sehr bald ändern, denn sie jeden Tag aufs Neue zu verletzten war weiß Gott nicht einfach. Erst Recht nicht, weil sie die Einzige war, von der ich ganz sicher wusste, dass ich sie schlichtweg immer nur beschützen wollte.

„Leo? Schatz, ist alles in Ordnung?", hörte ich Eleonore, meine Mum, wie ich mich täglich erinnern musste, fragen und blickte von meiner Tasse schwarzem Kaffee auf. Eine der ersten Dinge die ich getan hatte, als ich im Irak aufgewacht war, war auf Anraten des Arztes hin, herauszufinden wie ich gerne meinen Kaffee trank. Baby-Stepps sozusagen. Gerade hatte ich mich damit an den Esstisch gesetzt und mir darüber Gedanken machen wollen, was genau auf dem Friedhof passiert war, als die Haustür aufgegangen und meine Mum Heim gekommen war.

„Ich denk bloß nach", antwortete ich bereitwillig und musterte interessiert die Frau die vor mir stand. Wie kam es nur, dass ich scheinbar so gar nichts von ihr hatte? Weder meine Augen, noch Haare oder gar die Form der Nase. Wir waren so dermaßen verschieden, dass ich mich fragte, ob ich wohl mehr nach meinen Großeltern kam, da sich auch meine Ähnlichkeit mit John stark in Grenzen hielt.

„Worüber denn? Hast du dich an etwas erinnern können?", wollte sie neugierig wissen und setzte sich zu mir. Eigentlich hatte ich ihr und Dad gesagt, dass der Arzt meinte wir sollten nicht versuchen Erinnerungen zu erzwingen, dass dies den Prozess eher verhindern als besser würde. Aber genau wie der Rest meiner Familie, wollte sie nichts mehr als den echten Leo zurück. Den Sohn, den sie vor über einem Jahr verloren hatte und der nie zurückgekehrt war.

„Nein", log ich sie an, wohlwissend dass meine verschüttete Erinnerung sie nichts anging. Das war eine Sache zwischen meiner Schwester und mir. Vielleicht musste ich es sogar gänzlich mit mir selbst ausmachen, so wie ich es auch mit meinen anderen raren Momenten der Klarheit tat.

„Lil war vorhin hier und ist mit mir zum Friedhof gefahren", sagte ich stattdessen um ihr wenigstens irgendetwas zu erzählen, da sie mir nicht wie der Typ Mensch vorkam, die sich einfach so abspeisen ließ. Es war wirklich seltsam seine eigene Mutter von Grund auf neu kennenlernen zu müssen.

„Sie hat was getan?!", rief Mum empört aus und sprang beinah von ihrem Platz auf.

„Das kann sie doch nicht machen! Dieses Grab sollte gar nicht existieren. Wie konnte sie dich da einfach mit hinnehmen?", wetterte sie weiter, offensichtlich zutiefst erbost über Lillys Verhalten. Um sie ein wenig zu beruhigen, legte ich eine Hand auf die ihre und meinte bestimmt:

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now