1. Kapitel

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1. Kapitel

Vielleicht sind wir bloß die Summe unserer Erfahrungen, der Menschen die uns umgeben und unser eigenen Gedanken. Vielleicht aber auch nicht. Ich glaube, dass wir selbst entscheiden was und wer wir sind. Natürlich beeinflusst uns alles und jeder irgendwie. All die Dinge und Menschen in meinem Leben, haben mich stärker gemacht. Ganz gleich ob sie gut oder schlecht waren. Es hat mir gezeigt, dass ich mehr bin als Andere und ich dachten. Intelligenter, selbstbewusster, aber auch gebrochener. Wenn es ein Drehbuch für das Leben gibt, so hatte ich meins wohl verloren.

Als mein Bruder endlich wieder vor mir stand, er aber trotzdem nicht da war, fühlte ich mich so machtlos wie noch nie in meinem Leben. Mein Leben, welches ich endlich im Griff hatte und so war, wie ich es mir gewünscht hatte, fiel erneut auseinander. Trauer schnürte meine Kehle zu. Mir wurde schlecht und ich hatte das überwältigende Gefühl mich übergeben zu müssen. Unsicher legte ich eine Hand auf mein wild pochendes Herz. Meine Lippen bebten, als ich mir die andere Hand davor hielt.

„Ist alles in Ordnung?", fragte mein Bruder, der nicht mein Bruder war.

Er wollte mich an der Schulter berühren, um mich zu trösten, aber ich wich zurück, als hätte er mich geschlagen. Das konnte ich einfach nicht. Ich konnte nicht den wichtigsten Menschen in meinem Leben vor mir haben, der mich aber nicht erkannte. Die Soldaten, welche hinter ihm standen, sahen mich mitleidig an. Ich kannte sie vom Stützpunkt, ihre Namen waren mir allerdings entfallen. In jenem Augenblick wollte ich mich auch gar nicht daran erinnern. Ich wollte einfach nur weg.

„Lilly?", ertönte Alexanders Stimme von der Terrassentür aus.

„Wo bleibst du denn?"                                               

Er tauchte im Wohnzimmer auf, mit Tränen in den Augen schaute ich ihn an und trat beiseite, damit er meinen Bruder sehen konnte. Genau wie mir, stockte ihm der Atem.

„Oh mein Gott", entwich es ihm.

Leo schaute unsicher von Einem zum Andern und wieder zurück. Der Ausdruck in seinen Augen war unerträglich. So unglaublich leer und verloren, dass es mir das Herz zerriss, das gerade erst verheilt gewesen war. Schnell schob ich mich an ihm und den andern Beiden vorbei, rannte zu meinem, nein seinem Wagen, bemerkte aber dass ich meine Schlüssel nicht bei mir hatte. Ich lief weiter die Straße hinunter, in Richtung Strand. In Richtung meines Zuhauses. Undeutlich nahm ich die Stimme von Alex war, wie er meinen Namen rief, aber ich blieb nicht stehen. Ich lief immer weiter, bis meine Lungen und Beine brannten, mein Herz raste, als würde es zum letzten Mal sprinten und meine Hände unkontrolliert zitterten. Schreiend ließ ich mich auf den Gehweg gleiten, wiegte mich weinend vor und zurück. Der Schmerz tobte in meinem Körper und entwich auch nicht, als ich ihm weiter seufzend und schreiend Ausdruck verlieh. Mein Kopf begann weh zu tun, von dem krampfartigen Weinanfall. Ich weinte wie ein kleines Kind, versuchte des Öfteren damit aufzuhören, konnte aber nicht. Wollt nicht. Ich wollte Leo. Ich wollte, dass er mich ansah, wie er es früher getan hatte. Mich in den Arm nahm und sagte, er wäre wieder Zuhause, bei mir wo er immer hatte sein wollen.

Aber wie so oft in meinem Leben, bekam ich nicht das was ich wollte. Stattdessen hockte ich weinend auf dem Bürgersteig und wollte am Liebsten sterben. Ein Wunsch, der aus der unendlichen Trauer geboren wurde, die ich empfand. Es war um einiges schlimmer, als damals, bei der Identifizierung. Damals nahm ich von ihm Abschied in der Hoffnung, er wäre an einem Ort ohne Schmerz und Bedauern. Doch heute, an diesem Tag, wurde mir klar, wie sehr ich mich getäuscht hatte. Er war noch am Leben gewesen. Und nun stand er dort in unserem Haus und betrachtete sein Leben, als würde er es zum ersten Mal sehen. Wie konnte das nur passieren?

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now