26. Kapitel

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Es war seltsam, so wie alles Eigenartig war zu dieser Zeit. Zu ihm zu gehen, ihm gegenüber zu treten und eine Nachricht zu überbringen, von der ich keine Ahnung hatte, wie ich sie am besten in Worte verpacken sollte. Er hatte so viel für das hier geopfert, aber genau wie ich, würde er mit dem Ergebnis nicht gänzlich glücklich sein, so viel wusste ich. Aber er hatte ein Recht darauf es zu erfahren. Also tat ich, was ich tun musste und nahm es auf mich, ihm von den neusten Entwicklungen in unser beider Leben zu berichten. Die Kettenreaktion, welche ich damit in Gang setzte, war jedoch nichts, womit ich auch nur annähernd gerechnet hätte.

Unschlüssig stand ich vor dem großen Betonklotz von Gebäude, der als Militärgefängnis diente. Bis jetzt war ich mir sicher gewesen, dass Richtige zu tun, aber mit einem Mal überkamen mich Zweifel. Was hätte Ryan davon, wenn ich zu ihm ginge und von der grausamen Wahrheit erzählte, die zu meiner Realität geworden war? Er würde nach wie vor hier festsitzen, ohne die Möglichkeit Leo gegenüber zu treten und diesen herzubringen, war schlichtweg keine Option. Nicht jetzt, vielleicht niemals.

„Hör auf dich rausreden zu wollen", maulte ich mich selbst an.

„Geh da jetzt rein und bring's hinter dich."

Selbstmotivation war noch nie wirklich eine meiner Stärken gewesen, aber in diesem Fall, reichte es aus, um mich in Bewegung zu setzten. Mit fast schon mechanischen Bewegungen lief ich zum Soldaten, der im Eingangsbereich Dienst hatte und meldete mich als Besucher für Ryan an. Nachdem ich alle meine Wertgegenstände abgegeben hatte, wurde ich erst durchsucht, dann durch einen Scanner geschickt, um schließlich endlich zu ihm in den Besucherraum gebracht zu werden.

„Lilly. Ich hatte früher mit dir gerechnet. Wo warst du denn? Ein Teil von mir hat schon befürchtet, dass du die Lust daran verloren hast, mir beim verrotten zuzusehen", wurde ich halb scherzend begrüßt. Dass seine Worte nicht wirklich als Witz gemeint waren, konnte ich ihm deutlich ansehen. Er sah schlechter aus als üblich. Im Knast zu sitzen hatte ihn verändert. Seine Schultern waren nicht mehr gestrafft, sondern hingen vorne über, genau wie sein Kopf. Seine Muskulatur war so ziemlich die Gleiche, da er sich, wie so viele Andere auch, die meiste Zeit mit Sport vertrieb. Aber sein Gesicht zeigte dafür deutliche Spuren jedes einzelnen Tages, an dem er hier festsaß.

„Tut mir Leid. Es sind da ein paar Dinge passiert die mich kopflos gemacht haben. Da hab' ich es einfach nicht geschafft dich früher zu besuchen", erklärte ich und setzte mich auf einen der Besucherstühle. Es war nicht erlaubt sich zu umarmen oder auch nur die Hand zu schütteln, was mich immer wieder an eine emotionale Grenze trieb. Ryan so nah zu sein, ihn aber nicht anfassen zu dürfen, tat weh. ‚Das ist fast wie mit Leo', dachte ich. ‚So nah und doch so fern.'

„Hat es etwas mit deinem blauen Auge zu tun?", erkundigte Ryan sich besorgt. Reflexartig schnellte meine Hand an besagtes Auge. Das hatte ich schon fast vergessen.

„Ja. Das hat es. Aber nicht so wie du jetzt vielleicht denkst. Ryan ...", setze ich an, suchte fieberhaft nach Worten, fand aber keine. Wie erklärt man jemandem, dass die Liebe seines Lebens zwar lebendig ist, aber alles was ihn ausgemacht hat, fort ist und vielleicht nie wieder zurückkommt?

„Lilly, was ist denn? Du fängst an mir Angst zu machen", fragte mein Gegenüber und Sorge zeichnete sich auf seinen Zügen ab.

„Es ... es geht um Leo. Er ... er ist wieder da", brachte ich schließlich stotternd hervor. Ryan wurde weiß wie eine Wand, dann leicht grünlich um die Nase, um letztlich mit hochrotem Kopf vor mir zu sitzen. Es war ein so grauenhafter Anblick, dass ich versucht war auf die Regeln zu pfeifen und ihn doch zu berühren. Wenigstens meine Hand auf seine zu legen. Aber ich tat es nicht. Dafür hatten sich die Regeln zu sehr in mein Gedächtnis eingebrannt. Sie zu brechen, war keine Option. Nicht wenn ich nicht herausgeworfen werden wollte und das konnte ich jetzt nicht zulassen. Die Wahrheit war zu wichtig, um sie einer simplen Geste des Zuspruchs zu opfern.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now