24. Kapitel

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Er überrumpelte mich vollkommen. Und ich tat nichts um etwas an dem zu ändern, was gerade mit uns passierte. Stattdessen ließ ich es nicht einfach nur geschehen, ich erwiderte seine Geste auch noch und brachte uns beide damit in größere Schwierigkeiten als wir auch nur ahnen konnten.

Ich konnte sehen, dass es in ihm arbeite. Die Sehen an seinem Hals traten hervor, während er mit den Zähnen mahlte und die Muskeln an seinen Armen waren zum zerreißen gespannt. Leo blickte mich so intensiv an, dass ich mich fragte ob er versuchte mich vom Angesicht der Erde zu sprengen. Als er sich dann regte, tat er etwas was ich nun wirklich nicht erwartet hatte, vielleicht hatte ich es gehofft, ganz bestimmt sogar, aber wirklich damit gerechnet hatte ich sicher nicht. Seine Hände schnellten an mein Gesicht und zogen es noch näher an das Seine. Er legte seine Stirn an meine und murmelte:

„Ich will nichts mehr auf dieser Welt, als mich an dich zu erinnern. Wirklich an dich erinnern. Ich kann dich nicht ganz verlieren. Bitte, bitte hilf mir dabei. Lilly ... du bist alles was ich noch habe. Alles was ich ... was ich will. Nichts bedeutet mehr etwas für mich. Nichts außer dir. Und ich will ... ich will so sehr verstehen, warum dem so ist. Also bitte, lass mich jetzt nicht wieder allein. Bleib und ... hilf mir. Bitte hilf mir dich zu finden."

Er nahm mir den Raum und die Luft zum atmen. Er raubte mir den letzten Nerv und alles was ich noch an Beherrschung hatte aufbringen können bis dahin. Während er sprach, gruben sich meine Hände in sein Shirt, direkt an seiner Brust. Meine Augen schlossen sich und ich hörte jedes einzelne seiner leisen Worte, als würde er sie schreien.

Es war alles was ich wollte und doch blieb es meine größte Angst. Es gefährdete einfach alles. Mein Plan ihn vor der Wahrheit zu schützen, meine Beziehung zu Alex, selbst die zu Hanna. Wenn ich seinem und meinem Wunsch nachgab, gäbe es kein Zurück mehr. Für keinen von uns oder ihnen.

„Ich will es. Ich will es wirklich ... aber ... aber ich ...", flüsterte ich und schüttelte innerlich den Kopf.

Aber bevor ich meinen Satz beenden konnte, schob Leo mein Gesicht wenige Zentimeter zurück, damit wir einander wieder ansehen konnten. Suchend blickter er mich an. Ich wusste was er zu finden hoffte und ich wusste auch, dass er fündig werden würde, wenn ich nichts dagegen unternahm. Also schlug ich die Augen nieder, in dem Versuch dem Ganzen zu entfliehen. Aber es war bereits zu spät. Ich spürte ihn noch näher an mir. Mit den Lippen an meiner Stirn, sagte er leise:

„Du kannst und du wirst. Das wissen wir beide. Ich sehe es. Ganz egal wie sehr du auch versuchst es vor mir zu verbergen."

Dann formte er einen Kuss, lehnte sich noch einmal für einen kurzen Moment an mich, bevor er sich von mir trennte und langsam zurück zum Wagen ging. Wie versteinert verharrte ich an Ort und Stelle und blickte ihm nach. Was war da gerade passiert? Warum? Wie ...? Gott, ich hatte vollkommen den Verstand verloren! Nein, nicht ich, er! Bei dem Gedanken brach ich in meinem Kopf in Gelächter aus. Ganz genau, er hatte den Verstand verloren. Er hatte eine Ausrede für all das, aber ich? Nicht so wirklich.

Kopf schüttelnd folgte ich ihm, nachdem ich noch einmal zu seinem Grab geschaut hatte. Er hatte Recht gehabt. Dieser Stein und dessen Innschrift, hatte rein gar nichts mit ihm zu tun. Es waren bloß Worte, Buchstaben auf Granit gemeißelt, ohne einen Zusammenhang zu ihm zu haben. Jedenfalls nicht mehr. Ich würde ihn so schnell wie möglich entfernen lassen.

Bei Anna hielt ich kurz inne und blickte auf ihre Innschrift. Sie war so falsch und voller Lügen. Wenn ich schon dabei war mich mit dem Friedhof auseinander zu setzten, konnte ich ihren Stein auch gleich mit etwas ersetzten lassen, dass der Wahrheit entsprach.

Langsam ging ich zurück zum Auto und versuchte dabei meine Gedanken zu sortieren. Ich hoffte innständig, dass Leo wieder zu dem zurückhaltenden und unsicheren Menschen geworden war, der er seit seiner Rückkehr zu sein schien. Aber ich wurde enttäuscht. Er lehnte an der Beifahrertür und schaute mich herausfordernd an, als wollte er dass ich ihn anbrüllte oder sonst irgendetwas tat, alles nur nicht schweigend an ihm vorbeigehen. Aber den Gefallen tat ich ihm nicht. Er hatte bereits bekommen was er wollte. Leo wusste, dass ich ihm geben würde, worum er mich gebeten hatte. Und ich wusste es leider auch.

Mit einem Knopfdruck entriegelte ich die Türen und stieg ein. Kaum dass ich saß, startete ich den Motor. Leo beeilte sich nicht wirklich sich neben mir niederzulassen, aber alleine im Nirgendwo wollte er wohl auch nicht bleiben. Ich konnte spüren, wie er mich beobachtete, als ich anfuhr und dabei das Lenkrad so fest umklammerte, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Wie hatte das nur passieren können? Warum hatte ein Blick auf sein Grab ihn von einem Moment auf den Anderen so dermaßen verändert? Was hatte Leo wirklich gesehen, während er abwesend auf den Stein gestarrt hatte? Was war dabei in ihm vorgegangen?

„Wo fahren wir hin?", riss Leo mich aus meinen Gedanken, und ließ mich dabei leicht zusammenfahren.

„Ich bring dich nach Hause", brummte ich und versuchte das unbestimmte Gefühl abzuschütteln, dass etwas faul war.

„Wirklich?", hakte er nach.

„Wirklich", wiederholte ich.

„Also ... willst du für heute aufhören? Wir werden nicht mehr reden?", wollte er genauer wissen.

„Nein. Ja ... also ... ja wir hören auf, nein wir werden heute nicht mehr reden. Außerdem hab ich für meinen Teil wirklich genug gehabt für heute", faselte ich vollkommen wirr vor mir her und erhaschte einen Blick auf Leo, als ich beim Abbiegen kurz nach rechts schaute um nach kreuzenden Fahrzeugen Ausschau zuhalten.

Und was tat er? Er schaute mich noch immer aus diesen intensiven Augen an und forderte mich unaufhörlich heraus. Wozu genau wusste ich nicht, aber ich kannte diesen Blick. Leo wollte etwas und er wollte es scheinbar von mir. Was auch immer das sein mochte.

„Hör auf damit", knurrte ich.

„Womit?", fragte er und tat doch tatsächlich als wüsste er nicht ganz genau wovon ich sprach.

„Mich anzustarren."

„Ich denke nicht, dass mir das möglich ist."

„Du hast es vorher auch geschafft", gab ich zurück und drehte sein Gesicht in Richtung Seitenfenster. Als ich meine Hand zurückziehen wollte, griff er danach. Perplex warf ich ihm einen Blick zu und bemühte mich nicht von der Fahrbahn abzukommen, während ich darum kämpfte meine Hand zurückzubekommen, aber ganz egal wie sehr ich auch zog, er gab sie nicht frei.

„Ich muss fahren!", fuhr ich Leo irgendwann an.

„Wir sind nur noch zwei Straßen entfernt und für den kurzen Moment wirst du deine Hand wohl entbehren können."

Widerwillig, in dem Wissen, dass diskutieren sinnlos war und weiteres Zerren an meiner Extremität mir höchstens Schmerzen einbringen würde, ließ ich ihn meine Hand halten, was jedoch nicht sehr förderlich für meine Konzentration war. Jeder Zentimeter von mir war elektrisiert. Leo's Finger fuhren sanft über meine, womit er einen Schauer durch mich hindurch jagte und für einen kurzen Augenblick, erlaubte ich mir es zu genießen.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt