27. Kapitel

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Häufig habe ich mich in meinem Leben selbst beobachten können. Wann immer es passierte, was es, als würde sich meine Seele von meinem Körper trennen. Dann stand ich beinah wörtlich neben mir selbst und schaute zu, wie ich die verrücktesten Dinge tat. Ob ich gerade dabei war mich von Hanna zu einer Party schleppe zu lassen, Leo leb wohl sagte, wenn er zu seiner nächsten Mission aufbrach oder mit Alex über sinnlose Dinge diskutierte. Auch an diesem Tag geschah es. Ich konnte sehen wie Dean mich zu seinem Wagen dirigierte, aber bewusst handeln tat ich erst wieder, als wir bei Julia ankamen. Ryan's Ausbruch, das er tatsächlich versucht hatte mich zu beißen, als wäre er ein tollwütiges Tier, hatte mich dermaßen erschüttert, dass ich glaubte ewig zu brauchen, bis ich mich davon erholte. Aber wie so oft in meinem Leben, konnte ich mir den Luxus Zeit nicht erlauben.

„Was ist passiert?", hörte ich eine bestürzte Stimme zu meinem Bewusstsein vordringen. Irritiert blickte ich mich um und sah Julia im Eingang ihres Hauses stehen. Lillyan krabbelte im Hintergrund aufgeregt durch den Flur und brabbelte vergnügt vor sich hin, aber ihre Mum schien sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Nämlich mich. Besorgt blickte meine Freundin von mir zu dem Mann in ihrem Leben, welcher mich mehr oder weniger aufrecht hielt.

„Ich kenne die ganze Geschichte selbst noch nicht", erklärte Dean und ging neben mir her die wenigen Stufen hinauf zum Haus. Kaum das ich im Wohnzimmer auf dem Sofa saß, beugte ich mich vor und stützte den Kopf in die Hände, in dem Bemühen meine Gedanken zu ordnen und meine verfluchte Seele, Geist oder wie man es auch nennen wollte, wieder in meinen Körper zu bekommen.

„Hier, trink das", forderte Julia mich auf und hielt mir ein Glas Wasser unter die Nase. Mit leise gemurmeltem Dank kam ich ihren Worten nach und stürzte das kalte Nass herunter. „Also, was ist passiert? Das Gefängnis hat vor einer guten viertel Stunde hier angerufen und gefragt ob einer von uns wohl kommen und nach dir sehen würde. Aber viel mehr als das es dir nach einem Vorfall mit Ryan nicht gut zu gehen scheint, haben sie uns auch nicht verraten", begann sie mit dem Teil der Geschichte den sie schon kannte und von der sie hoffte nun den Rest zu erfahren.

„Er hatte einen Nervenzusammenbruch. Scheinbar ist er etwas durchgedreht. Sie mussten ihn ruhigstellen und haben ihn vorerst in Einzelhaft gesteckt", ergänze Dean was er wohl vor Ort von dem Soldaten im Eingang erfahren hatte.

„Etwas?! Etwas ist gut! Er hat völlig den Verstand verloren! Er hat sogar versucht mich zu beißen!", rief ich nun aufgebracht aus und knallte das leere Glas etwas zu heftig auf den Couchtisch.

Blass geworden warf Julia einen Blick in Richtung ihrer Tochter, die aber vollkommen unberührt von meinem Gefühlsausbruch, nach wie vor auf den Teppich saß und spielte. Unruhig sprang ich auf und stellte mich mit den Rücken zu meinen Freunden ans Fenster. Das war nicht ihre Schuld und ich wollte beim besten Willen nicht dass meine Patentochter Angst vor mir bekam. Mit hängendem Kopf malte ich mit dem Zeigefinger Muster aufs Fensterbrett, während ich leise den Grund für die ganze missliche Lage flüsterte:

„Leo ist wieder da."

Ich konnte förmlich spüren wie die Anspannung im Raum wuchs. Es war so still, dass ich mich fragte, ob die Beiden wohl die Luft anhielten während sie sich zweifellos verwirrte Blicke zuwarfen und überlegte, was sie darauf sagen sollten. Nur die Kleine gluckste weiter vor sich her, als hätte ich nicht gerade schier unglaubliche Neuigkeiten überbracht.

„Nein ... das kann nicht ... was?", stotterte Dean dann. Als ich hörte wie er sich von seinem Platz neben Julia erhob und auf mich zukam, drehte ich mich zu ihm um. Mir ist bis heute nicht klar, was er wohl in meinen Augen gesehen hatte, aber er blieb dermaßen abrupt drei Schritte vor mir stehen, dass sich der Teppich unter seinen Füßen leicht zu wellen begann.

„Es ist was mit ihm passiert", brachte ich leise hervor, unfähig Dean weiterhin direkt in die Augen zuschauen, weshalb ich stattdessen auf seine breite Brust starrte. Undeutlich nahm ich wahr das Julia ebenfalls aufstand und knapp hinter Dean stehenblieb, scheinbar nicht gewillt diesen Moment zwischen uns zu stören, aber dennoch daran interessiert zu erfahren, was eigentlich vor sich ging.

„Was ist mit Leo?", fragte Dean ruhig, mit fester Stimme, bereits für alles Furchtbare gewappnet, was ich ihm eventuell eröffnen würde. Aber war er auch hierfür bereit? Würde er es ertragen die grausame Wahrheit zuhören, oder unter der Last zerbrechen, so wie Ryan und ich es getan hatten? Und falls ja, war würde aus Julia werden? Könnte sie ihn aufrecht halten oder müsste sie erneut mit ansehen wie der Mann den sie liebte verschwand?

„Er ... er ist Zuhause aber ... aber er hat ...", gab ich mir Mühe es ihnen zu sagen. Ich musste es tun. Bereit oder nicht, sie mussten es erfahren. Sie hatten ein Recht darauf es zu erfahren. Dean hatte Jahre lang mit Leo gemeinsam gedient und nun waren wir in einem Team. Er hatte jedes Recht auf die Wahrheit. So schmerzhaft sie auch sein mochte.

„Er hat sein Gedächtnis verloren, Dean. Er kann sich an nichts mehr erinnern. Sein Vorname ist alles was ihm geblieben ist."

Zu sehen wie meine Freunde mich betroffen ansahen, zerriss mir das Herz. Sie wussten Beide wie sehr ich meinen Bruder immer geliebt hatte, wusste wie sehr sie selbst ihn geliebt hatten. Sich darüber klarwerden zu müssen, dass er vielleicht nie mehr auch nur einen von ihnen wiedererkennen würde, war ein Schock.

„Oh Gott Lilly. Das tut mir so leid", brachte Julia als Erste hervor, rührte sich aber nach wie vor nicht vom Fleck. Ihre Hand hatte sie in die von Dean geschoben und umklammerte nun seine Finger, als hinge ihr Leben davon ab. Er hingegen schaute nach wie vor mich an. Das Entsetzen über die Neuigkeiten stand ihm riesig ins Gesicht geschrieben. Dieses Mal wandte ich mich nicht davon ab, war ich es ihm doch schuldig für ihn da zu sein, so wie er immer für mich da gewesen war.

Schließlich ließ Dean Julias Hand los und trat die letzten Schritte auf mich zu. Dann schloss er mich fest in seine Arme. „Ganz gleich wie furchtbar es sich auch anfühlt, das sind gute Neuigkeiten", flüsterte an meinem Ohr. „Ich bin froh, dass er am Leben ist. Mit oder ohne Erinnerungen."

Bei diesen Worten brach der Damm in mir dann doch. Tränen rannen stumm über meine Wangen während ich mich an meinen Freund klammerte und mich am liebsten in seinen Armen vor dem Rest der Welt versteckt hätte. „Ich weiß. Ich weiß, aber es ist so schwer", schluchzte ich. „Er kennt mich nicht mehr. Leo hat keine Ahnung wer ich bin. Was wenn es für immer so blieben wird?", wollte ich wissen und verbarg mein Gesicht an seiner Schulter. Sacht schob Dean mich ein Stück von sich fort, wischte meine Tränen weg und erklärte mir dann ernst: „Dann werdet ihr eben neue Erinnerungen schaffen. Du bist so weit gekommen Lilly. Gib jetzt nicht auf."

Schniefend nickte ich leicht und trocknete auch noch den Rest meiner Tränen. Dean hatte Recht. Wir hatten es bis hierher geschafft, so viel überlebt und verwunden. Einen Leo ohne den Teil von sich, der ihn ausmachte, würden wir auch noch schaffen. Vielleicht nicht alleine, aber gemeinsam hatten wir eine Chance.

„Komm her", forderte Julia und streckte die Arme nach mir aus. Nur zu gerne ließ ich mich von ihr halten. Andächtig lauschte ich ihren ruhigen, ermutigenden Worten, bis sie mich schließlich freigab und meinte ich solle mich im Gästezimmer etwas ausruhen, bis Dean meinen Wagen geholt hatte. Auch diesen Worten kam ich ohne allzu große Widerrede nach. Der Tag war lang und anstrengend gewesen. Ein paar Minuten Schlaf konnten da nun wirklich nicht schaden. Langsam setzte ich mich in Bewegung um in besagtes Zimmer zu gehen, wurde dann aber von zwei kleinen Händen davon abgehalten. Verwundert schaute ich hinab auf den Boden zu Lillyan. Diese zog sich voller Inbrunst an meinem Bein hoch und strahlte mich an, kaum dass sie wackelig auf ihren Beinen stand. Es hielt nicht lange an, doch als sie sacht auf ihren Hintern plumpste, musste ich tatsächlich und wirklich echt Lachen.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now