29. Kapitel

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Wenn wir tatsächlich die Summe unserer Erfahrungen waren, fragte ich mich, wer ich wohl war, denn schließlich hatte ich keinerlei Ahnung, was mir bereits alles im Leben widerfahren war. Vor einem leeren Blatt Papier zustehen, obwohl man eigentlich ganze Bücher mit Informationen habe sollte, war ein beängstigendes Gefühl. So beängstigend, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte als all mein Wissen zurückzubekommen, so furchtbar manches auch sein mochte. Ich. Wollte. Es. Ich wollte all das und mehr. Ich wollte eine Vergangenheit, um mich in meiner Gegenwart zu Recht zu finden und auf eine Zukunft hinarbeiten können, auf die ich stolz sein konnte. Ich wollte Erinnerungen an Freude, Schmerz, Liebe und Kummer. Ich wollte all das Gute und das Schlechte. Ich wollte was scheinbar ein jeder um mich herum hatte und nur mir verwehrt blieb. War das denn wirklich zu viel verlangt?

Grübelnd hatte ich mich, nach den Gesprächen mit Eleonore und John, in mein Zimmer zurückgezogen. Ich brauchte dringend etwas Raum und Stille, um wenigstens den Versuch zu unternehmen meine Gedanken zu ordnen. Frustriert kickte ich die Schuhe von den Füßen und ließ sie anschließend an Ort und Stelle liegen. Es kam ohnehin nie jemand herein außer mir, wofür sollte ich mir also die Mühe machen hinter mir aufzuräumen? Das sagte ich mir jedenfalls. Letztlich stand ich aber doch nach wenigen Minuten wieder von meinem Bett auf um sie ordentlich davor zu stellen.

„Manche Dinge verlernt man wohl nicht", murmelte ich an mich selbst gewandt, mit dem starken Verdacht, dass ich seit meinem Eintritt beim Militär die Stiefel immer ans Bettende gestellt hatte. Mit kreisenden Gedanken legte ich mich wieder auf die Laken und blickte an die weiße Zimmerdecke. Sie war genauso leer wie mein Leben. Jeden Tag seit meiner Rückkehr konnte ich nichts tun, außer darauf zu warten, dass Lilly vor der Tür auftauchte. Unsere Eltern schienen zwar glücklich darüber dass ich wieder da war, aber es machte ihnen ganz Offensichtich Probleme mit mir über das vergangene Jahr oder alle anderen davor, zu sprechen. Das heutige Gespräch, war tatsächlich das Längste, welches wir seit meiner Rückkehr geführt hatten. Zwar hatten sie mich am ersten Tag mit Fragen regelrecht überhäuft, vor allem meine Mum, aber da ich kaum eine beantworten konnte, hörten sie recht schnell wieder damit auf.

Einfach zurück zum Militär zu gehen, war leider auch keine Option, solange meine psychologischen Tests nicht ausgewertet waren und ich mich nicht durch mindestens 12 Therapiesitzungen gequält hatte. Vorher, so hatte man mir klipp und klar gesagt, wollte man mich nicht wieder beim aktiven Dienst sehen. Nicht, das mir der Gedanken allzu erstrebenswert erschien, sämtliche Kameraden wieder neu kennenzulernen. Das waren mit Sicherheit nicht gerade wenige und mir reichte es aktuell aus, täglich immer wieder aufs Neue meine Familienangehörigen zu enttäuschen.

„Verdammtes Gehirn", murrte ich und fuhr mir mit der Hand über die Narbe an meiner linken Schläfe. Die Ärzte hatten mir beim Aufwachen erklärt, dass ich verdammt großes Glück gehabt hätte. Eine Kugel im Kopf würde nicht jeder überleben, dann auch noch vollkommen gesund das Bewusstsein zurückzuerlangen, wäre eine absolute Seltenheit. Als mir allerdings klar wurde, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wer ich war, hatte ich sie angeschrien, wie mein Überleben bitte ein Glück sein solle, wenn ich letzten Endes genauso gut tot sein könne. Man hatte mir zu Geduld geraten, versichert das meist mit der Zeit Vergessenes wieder zurückkehren würde, aber so sehr ich mich auch bemühte geduldig zu sein, oder irgendetwas aus meinem Gedächtnis auszugraben, bis auf meinen Vornamen war es ergebnislos geblieben.

Nun ja. Nicht ganz. Da waren immerhin noch meine Träume von Lilly gewesen. Aber Träume waren keine Erinnerungen. Oft war es so verwirrend, dass ich beim Aufwachen kaum noch das Gesehene zusammen bekam, darüber sprechen oder es gar aufschreiben konnte. Eine der Krankenschwestern war es schließlich, die mich fragte ob ich denn zeichnen würde, damit ich wenigstens ihr Gesicht bannen könnte. Nachdem ich ihr erklärte das ich keine Ahnung hatte, brachte sie mir einen Stift und mehrere Bögen Papier, mit den Worten ich solle es einfach ausprobieren. Tatsächlich war ich anfangs ein grauenhafter Zeichner gewesen, aber ich hatte mich dermaßen in diese Aufgabe verbissen, dass ich von Mal zu Mal besser wurde, bis ich nach Wochen der Versuche endlich zufrieden war. Das fertige Kunstwerk, hatte meinen mittlerweile behandelnden Arzt so sehr überzeugt, dass er mir glaubhaft versicherte, die Frau aus meinen Träumen wäre eine echte Person.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now