4. Kapitel

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4. Kapitel

Es war nicht das Warten auf Veränderung. Es war die Ungewissheit, welche mich in den Wahnsinn trieb. Die Ahnungslosigkeit, ob sich jemals etwas ändern würde. Das es nicht schlimmer werden würde war mir bewusst, aber die Frage ob es überhaupt besser werden könnte, ließ mich Nächte lang nicht schlafen. Ständig kreisten meine Gedanken um ihn, statt um Dinge, die sich gerade ebenfalls in meinem Leben abspielten und nach meiner Aufmerksamkeit verlangten.

„Warum bist du gestern weggelaufen?", war seine erste Frage an mich.

Ich hatte damit gerechnet, dennoch war mir nicht klar, wie ich ihm etwas begreiflich machen sollte, an das er sich nicht erinnern konnte.

„Ich ... ich habe mich erschrocken", begann ich.

„Du weißt, dass ich mich an nichts erinnern kann, oder?", fragte er leise und senkte dabei traurig seinen Blick.

Hart schluckend knetete ich meine Hände, wandte den Blick von ihm ab und schaute stattdessen nach Draußen auf die Straße, wo lachend die Kinder der Nachbarschaft tobten, mit Kreide malten und sich gegenseitig jagten.

„Ja. Ich wusste es schon bevor du mich gefragt hast wer ich bin. Aber es zu hören ...", mit klopfendem Herzen brach ich ab und richtete meinen Blick wieder auf Leo.

„Es tut mir Leid", sagte er und blickte mich dabei fest an.

Trocken lachte ich auf. Meine Reaktion verwirrte ihn, doch ich bemühte mich es einfach zu ignorieren.

„Ich glaube nicht, dass du dir das ausgesucht hast", versuchte ich ihm zu verdeutlichen, dass ich ihm keine Schuld gab.

Wie hätte ich auch. Er war verschollen gewesen. Vermisst für lange Zeit und schließlich für Tod erklärt worden. Und auch wenn ich noch nicht wusste wie, hatte er überlebt.

„Nein, nein, ganz bestimmt nicht."

Unruhig erhob er sich, da er mir scheinbar nicht länger gegenübersitzen konnte. Er lief von einem Ende des Raumes zum Anderen und wieder zurück, bevor er anfing zu erzählen.

„Es ist ... ich fühle mich wie ein Tourist in meinem eigenen Leben. Ich weiß, dass das meine Eltern sind und du meine Schwester ...", unwillkürlich zuckte ich bei seinen Worten zusammen.

Es tat weh das Wort Schwester zu hören, wenn er keinerlei Bezug zu dem Wort und der Bedeutung hatte, die es für ihn nun mal hatte. Zu wissen, dass er sich nicht bewusst war, wie sehr er dieses Wort zu hassen gelernt hatte in den letzten Jahren und es ihn jetzt so leichtfertig sagen zu hören, war seltsam und machte mir erneut bewusst, dass er nicht mehr der selbe Mensch war wie vor einem Jahr.

„ ... das dies unser Haus ist, aber ich erkenne nichts und niemanden wieder. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, ob ich dir nahe stehe oder sonst wem. Ich weiß nicht wie alt du bist oder ob du zur Schule gehst, einen Freund hast, ob du überhaupt noch in deinem Zimmer lebst oder längst ausgezogen bist", begann er aufzulisten.

Aufgewühlt stellte Leo sich vor meinen Sessel, überlegte kurz und kniete sich schließlich vor mich hin.

„Bitte hilf mir", bat er mich.

Perplex sah ich ihn an.               

„Warum ich?"

„Mir scheint ... du kennst mich am Besten", murmelte er und griff nach meiner Hand mit dem Tattoo.

„Warum glaubst du das?", flüsterte ich, nicht fähig lauter zu sprechen.

Seine Berührung schickte eine warme Welle durch mich. Es war seine Hand aber gleichzeitig auch nicht. Trotzdem freute ich mich. Es war so lange her, dass er mich zum letzten Mal an der Hand berührt, mir einen Kuss auf die Stirn gegeben oder im Arm gehalten hatte. Und da ich nicht geglaubt hatte, es jemals wieder zu spüren, machte es mich glücklicher als es wahrscheinlich sollte.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now