23. Kapitel

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23. Kapitel

Der Anblick ...

Die Worte ...

Das Atmen ...

Der Herzschlag ...

All das schmerzte. Aber es wollte nicht enden. Es war erst der Anfang.

„Red dir das nur weiter ein! Mir ist nichts geblieben! Nichts hat mehr eine Bedeutung für mich! Dieser Stein, der Name darauf, ist nur einer von vielen auf diesem Friedhof! Mich verbindet nichts damit! Oder mit dir oder sonst irgendjemandem! Alles und jeder ist mir fremd! ICH BIN TOT!"

Es tat weh, als hätte man mir mitten ins Gesicht geschlagen, so sehr, dass ich taumelnd ein paar Schritte zurücktrat. Natürlich wusste ich, dass er Recht hatte. Leo kannte mich nicht. Oder sich selbst. Ihm war weniger als ein leeres Blatt Papier geblieben. Trotzdem war es niederschmetternd es aus seinem Mund zu hören. Zu wissen das etwas den Tatsachen entsprach und es laut ausgesprochen zu hören waren zwei vollkommen verschiedene Dinge. Ganz besonders, wenn man es nicht wahrhaben wollte.

„Du bist nicht TOT! Du bist HIER! Du bist am LEBEN! Bloß weil du dieses Leben nicht willst, heißt es nicht, dass du dich daraus heraus stehlen kannst! Du musst es nehmen wie es ist! Du kannst es dir nicht aussuchen! Keiner kann das! Glaubst du ich WOLLTE zum Militär?! Glaubst du wirklich, dass ich keine anderen Pläne für mein Leben hatte?!

Aber ich habe es trotzdem getan! Für DICH! Für UNS! Gott, du bist so ein IDIOT!", brach die Antwort auf seine Worte aus mir raus und dieses Mal war es Leo, welcher sich von mir entfernte.

Wenn das so weiterginge, würden wir bald an den entgegen liegenden Seiten des Friedhofs enden. Und nach meinen eigenen Gefühlen nach zu urteilen, lag dies durchaus im Bereich des möglichen.

„Ich bin ein Idiot?! Und was ist mit DIR?! Du wirfst dein ganzes Leben über den Haufen und schreist mich an, weil ich mir Sorgen um dich mache! Du hast Monate deines Lebens damit verbracht dich in Gefahr zu bringen, für jemanden der weniger als ein Mann ist! WAS ZUM TEUFEL ERWARTEST DU DENN BITTE?! Ich kenne dich ja nicht einmal und ..."

„GANZ GENAU! Du kennst mich nicht! Also warum zum Teufel machst du dir überhaupt Sorgen um mich?! ICH bin weniger als ein Nichts für DICH!"

Ich schrie, ich brüllte und das mitten auf einem Friedhof. Könnten die Toten uns hören würden sie uns sagen, wir sollen verschwinden. Und Anna, sie würde sich für uns schämen, weil wir nicht in der Lage waren normal miteinander zu reden. Aber in diesem Moment war mir egal was meine Mum über mich denken würde. Ich war so unsagbar wütend, dass ich am ganzen Leib zitterte. Leo ging es ähnlich. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und er atmete bebend ein und aus. Mit drei langen Schritten, stand er mir plötzlich wieder direkt gegenüber, so nah, dass sich fast unsere Nasenspitzen berührten.

„Du bist kein Nichts. Du bist alles für mich", flüsterte er mit gepresster Stimme und blickte dabei auf mich herab.

Mein Atem stockte. Das Zittern wurde stärker, aber ich kümmerte mich nicht darum. Wie alles Andere auch, würde es wieder vergehen. Auch dieser Augenblick würde es, aber jetzt, in diesem Moment, schien er unendlich zu sein. Unser Atem traf das Gesicht des jeweils anderen, unsere Augen funkelten einander an, unsere Körper waren nach wie vor angespannt. Es war so falsch und fühlte sich trotzdem richtig an. Das Lodern in Leo's Blick war ein Teil von ihm. Seinem alten Ich. Es war mir nur allzu bekannt und mindestens genau so gefährlich wie damals, als wir mehr waren als Geschwister. Aber auch das Wissen um die Gefahr trieb mich nicht von ihm weg. Ich blieb wo ich war, gefangen in dem Moment.

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Sie stand vor mir wie die wilde Schönheit, die ich aus meinen Träumen kannte. In diesem Moment war sie nicht meine mir vollkommen fremde Schwester. Sie war die Frau die meine einzige Hoffnung gewesen war und noch immer war. Lilly war es die mir helfen konnte. Sie war es die mich kannte. Wirklich kannte. Sie wusste wer ich war, dessen war ich mir so sicher, dass es mich selbst erschaudern ließ. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung wer ich war oder sonst jemand auf diesem Gott verdammten Planeten, aber sie ... sie kannte ich. Nicht bewusst. Mehr auf einer Gefühlsebene, welche nicht dem entsprach was sie angeblich für mich war.

Ihre Augen sprühten förmlich Funken und ihr warmer Atem schlug mir entgegen, während ich bemüht war sie nicht anzufassen. Zu gerne hätte ich ihre Hände genommen, oder ihr Gesicht um sie an mich zu ziehen und zu halten. Aber das konnte ich nicht. Ich konnte nicht so für eine Frau empfinden die meine Familie war. Ich hasste mich jede Sekunde des Tages dafür, dass ich auch nur in eine solche Richtung dachte, aber das hinderte mich leider nicht daran dort zu bleiben wo ich war. Ganz nah bei ihr. All die Tage und Wochen in denen ich geglaubt hatte sie sei die Frau an meiner Seite schienen plötzlich wieder greifbar nah und ich wollte sie nicht gehen lassen. In Wirklichkeit war sie nicht weniger Schön, als in meinen Träumen. Sie sah genauso aus wie ich sie ... ja ... wie ich sie in Erinnerung hatte. Zu mindest ihr Gesicht und ihren Körper schien ich noch zu kennen, wenn auch nichts darüber hinaus. Es tat weh ihr so nah und doch so fern zu sein. Es war wortwörtlich unser Blut, das uns von einander trennte. Wir waren einfach zu verbunden. Und das nicht auf die Art, wie ich es mir gewünscht hatte.

Ich hatte geglaubt zu ihr zurückzukehren und dass unser gemeinsames Leben mich zurückbringen würde. Meine Erinnerungen. Als ich feststellen musste, dass dem nicht so war, verlor ich den letzten Rest Hoffnung, welcher noch in mir gewesen war. Die Frau aus den zahllosen Nächten in denen ich nicht wach gelegen hatte, verschwand und zurück blieb eine Schwester die mir nicht das geben konnte, was ich brauchte. Was ich so sehr wollte.

„Lilly ...", flüsterte ich und konnte nicht länger an mir halten.

Ich brauchte sie so sehr, dass es mich körperlich schmerzte. Und deshalb ... deshalb tat ich was ich wollte und nicht das was richtig gewesen wäre.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now