22. Kapitel

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Ich kann nicht behaupten ihn verstanden zu haben. Es viel mir schwer mich in seine Situation reinzufühlen. Vielleicht war ich zu egoistisch um es zu tun, vielleicht aber auch einfach nicht empathisch genug. Der Grund ist letztlich auch egal. Ich konnte es nicht, wollte es nicht. Allein der Gedanke alles zu vergessen jagte mir eine Gänsehaut über den Körper. Nicht weil ich es zwangsweise so furchtbar fand, im Gegenteil, bei meinem Leben war ich tatsächlich etwas neidisch darauf, aber die bloße Vorstellung John, Hanna, Kyle und insbesondere Alex und auch Leo nicht wieder zu erkennen, keinerlei der gemeinsamen Erinnerungen zu besitzen welche wir hatten ... jagte mir eine Heidenangst ein.

„Hier ist es?", fragte er, als wir am Eingang zum Friedhof hielten.

„Jap. Es ist noch ein kleiner Fußmarsch bis dorthin. Der Friedhof ist ziemlich groß, aber wir wollten dass du ... dass du nah bei Anna bist", erklärte ich und wurde dabei immer leiser, da meine Stimme, mit jedem Wort das ich laut aussprach, mehr versagte.

„Verstehe", gab er zurück, machte jedoch einen Augenblick, genauso wenig wie ich, Anstalten auszusteigen.

Gerade als ich ihm anbieten wollte umzukehren, schnappte er sich den Griff und öffnete die Tür. Hastig schwang er sich aus dem Wagen und schloss diese mit einiger Wucht hinter sich.

„Okaaay", sagte ich zu mir selbst und stieg aus.

Ich war absolut nicht begeistert hier zu sein, aber ändern konnte ich es nicht mehr. Jetzt würde ich ihn nicht mehr von hier wegbekommen, bevor er nicht hatte was er wollte.

Also schlenderten wir gemeinsam zu besagtem Ziel. Ich war nicht besonders schnell, da ich nach wie vor nicht scharf drauf war es zu sehen, und Leo weil er keine andere Wahl hatte, als mir zu folgen, in Ermangelung besseren Wissens und Ortskenntnissen. Mir war klar dass er versuchte geduldig zu sein, trotzdem konnte ich seine wachsende Unruhe deutlich spüren, als wäre es meine Eigene. Ihm zu liebe beschleunigte ich irgendwann meine Schritte und fand schließlich wonach Leo auf der Suche war.

„Hier ist es", stellte ich das Offensichtliche fest und deutete auf den Grabstein mit seinem Namen.

Schweigend starrte er auf die Granitplatte und deren Inschrift, während ich Leo selbst mit ähnlicher Sorgfalt musterte. Er atmete noch, also schlug sein Herz scheinbar auch noch, ein gutes Zeichen. Soweit so gut. Er brach auch nicht zusammen, ebenfalls positiv zu werten. Aber sein Gesicht ... es war so vollkommen ohne jegliche Regung, dass es mir fast schon Angst machte.

„Bist du ... bist du okay?", versuchte ich vorsichtig herauszufinden was in ihm vorging.

Als hätte ich ihn aus seinen tiefsten Gedanken gerissen, fuhr er leicht zusammen und schaute mich an, als hätte er eben erst bemerkt, dass ich ebenfalls anwesend war. Unruhig fuhr Leo sich durch die kurzen Haare.

„Ich bin mir nicht sicher. Kannst du ... kannst du mir davon erzählen?", murmelte er und blickte wieder auf die Gravur.

„Von der Beerdigung?", hakte ich leicht entgeistert nach.

Das war doch hoffentlich nicht sein Ernst? Obwohl nach seinem bisherigen Plan für den Tag, schien mir der Gedanke, dass er es meinte wie er es sagte, nicht so abwegig. Und natürlich bekamen meine beunruhigenden Gedanken die Bestätigung, die meine Seele gefürchtet hatte.

„Ja."

Laut atmete ich ein und aus. Ich hatte es bis hierher geschafft. WIR hatten es bis hierher geschafft. Dann würden wir das auch noch überstehen. Irgendwie.

„Es war ... ich kann nicht behaupten, dass ich den Tag gut überstanden hätte. Am Morgen musste ich bei einem sehr genauen Blick in den Spiegel feststellen, dass ich wieder Haut und Knochen geworden war. Der Kummer hatte nicht nur mental sondern auch körperlich zu sehr an mir gezehrt. Mein Kleid saß mehr schlecht als recht, aber es war mir egal. Ich wollte ... ich wollte es nur endlich hinter mich bringen", begann ich leise.

„Die Fahrt hierher war grausam, aber bei weitem nicht so schlimm wie die Beerdigung an sich. Der Trauerzug schien eine Ewigkeit zu dauern ... als wir endlich hier waren da ...", ich schniefte und kämpfte meine Tränen zurück.

„Da sprachen einige Leute ein paar Worte. Deine Einheit, John ... es war ... herzzerreißend. Ich hab ununterbrochen geweint. Es war einfach ... es war alles zu viel. Plötzlich gab es nichts mehr. Es ließ sich nicht mehr leugnen, dass man aufgegeben hatte. Das für dich alle Hoffnung verloren war. Ich bin zusammengebrochen, oben auf dem Podest, nichts worauf ich besonders stolz wäre, dass kannst du mir glauben", fuhr ich fort und konnte spüren wie die Erinnerungen an jenen Tag dabei waren mich zu überwältigen.

„Aber danach ...

Ich beruhigte mich langsam. Die Klänge des Horns jagten mir Schauer über den Rücken und gingen mir bis ins Mark. Es gab nichts Schöneres und nichts Schrecklicheres, als diesen Klang. Wie betäubt stand ich da, starrte auf den Sarg, hörte zu, wie die Schüsse erklangen. Ryan und Vincent falteten die Flagge zusammen. Ryans Hände zitterten dabei leicht und auch Vincent schluckte schwer. Als Ryan zu mir kam, hatte ich mich endlich wieder gefangen. Er reichte mir die Fahne, wobei über unsere beiden Gesichter Tränen liefen. Ich nahm sie ihm ab und drückte ihn mit der freien Hand an mich.

„Er hat dich geliebt. Ich weiß es ganz genau", flüsterte ich in sein Ohr.

Ryan schluchzte auf und schlang beide Arme um mich. Alex nahm mir die Flagge ab, damit ich Ryan richtig umarmen konnte. Als ich ihn losließ, wollte er gehen, aber ich hielt ihn fest.

„Nein. Du bleibst bei uns."

Ryan nickte nur leicht, unfähig, sich länger gegen mich zu wehren und stellte sich neben Alex und mich. Alex gab mir die Rose, die er mitgebracht hatte. Ich nahm sie und legte sie zusammen mit einer weiteren, die ausgeteilt worden waren, auf den Sarg meines Bruders. Meine Hand verweilte kurz auf dem kalten Holz.

„Ich vermisse dich. Grüß Anna", flüsterte ich, drückte einen Kuss in meine Hand und legte sie noch einmal kurz auf das Holz, ehe ich zurücktrat.

Der Rest der Trauergemeinde verabschiedete sich ebenfalls, dann wurden die drei Särge in die Erde gelassen. Zu meinen beiden Seiten standen die Menschen, die ich in diesem Moment bei mir haben wollte. Ryan und Alex. Sie hielten beide eine Hand von mir. Ryan wischte sich hin und wieder eine Träne weg und auch Alex, der meinen Bruder und die anderen gar nicht gekannt hatte, hatte glasige Augen.

Der Pater bedeutete mir, vorzutreten. Ich nahm eine handvoll Erde von dem Haufen, der neben dem Loch lag und warf sie auf den Sarg hinab. Ich sah ein letztes Mal auf das Bild meines Bruders, ehe ich mich abwandte, um zu gehen.

‚Leb wohl, Leo.'

Wir haben uns von dir verabschiedet. ICH habe mich von dir verabschiedet. Aber das war nicht das Ende. Zumindest nicht für mich", endete ich und räusperte mich, in dem Bemühen meine Stimme wieder in den Griff zu bekommen.

„Was meinst du damit?", fragte Leo und blickte mich mit bohrendem Blick an.

„Ich war zerstört Leo. Und man hatte offiziell aufgegeben. Niemand, NIEMAND glaubte mehr an eine Rettung. Das konnte ich einfach nicht akzeptieren. Ich MUSSTE herausfinden was passiert war. Unter allen Umständen. Koste es was es wolle", erklärte ich und hob trotzig das Kinn.

„Lilly, Lilly bitte sag nicht, dass du dein LEBEN riskiert hast um nach einem Toten zu suchen!", fuhr er mich beinah schon an.

Scheinbar waren wir beide heute nicht unbedingt Herr der Dinge.

„DU BIST NICHT TOT!", schrie ich aufgebracht und zeigte dabei mit dem Finger auf ihn.

Bebend standen wir voreinander, direkt vor dem Grab meiner Mutter, seiner Schwester und dem seinen. Aber es änderte nichts daran. Es war vollkommen gleichgültig WO wir waren. Denn wir konnten in diesem Moment nur an eins denken:

Wie bescheuert der Andere eigentlich war.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now