2. Kapitel

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2. Kapitel

Es gibt Zeiten im Leben, in denen man nichts will. Man will nicht hören wie das Telefon läutet, wie es an der Tür klopft, sanfte Worte einen dazu bewegen wollen aufzustehen. Alles was man möchte, ist die Leere in seinen Gedanken. Die abgestumpfte Wahnnehmung die einem erlaubt alles zu vergessen und nicht zu empfinden. Doch diesem Luxus konnte ich mich nicht hingeben. Nicht dieses Mal.

Gegen sechs Uhr in der Früh, hielt ich es nicht länger aus. Erschöpft, da ich erwartungsgemäß die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte, schlug ich die Bettdecke zurück und stand auf. Leise ging ich in mein Badezimmer, entledigte mich meiner Klamotten und stieg unter die kalte Dusche. Einige Augenblick lang tat ich rein gar nichts. Ich stand nur da, ließ das Wasser auf meine Haut prallen, sich langsam abperln und meinen Körper entlang fließen. Dann, ganz langsam, begannen meine Schultern zu beben, meine Atmung abgehakter zu werden. Salzige Tränen mischten sich mit dem kühlen Nass. Laute, von denen ich schon lange glaubte sie nicht mehr ausstoßen zu müssen, zumindest nicht wegen meinem Bruder, entrannen meiner Kehle. Weinend stützte ich meine Hände auf die Fliesen und ließ den Kopf hängen. Wie sehr ich mir wünschte von Leere und nicht von Schmerz erfüllt zu sein. Der Wunsch war so stark, das er mich beinah auffraß. Aber im Grunde war es nicht der Wunsch selbst, sondern die Gewissheit, dass er sich nicht erfüllen würde. So wenig ich es auch wahrhaben wollte, alles was ich seit langem wegen Leo empfand, war Schmerz. Die guten Erinnerungen schien weniger zu werden, während sich die schlechten langsam aber sicher Meter weit auftürmten.

„Lilly? Ist alles okay?", klang eine leise, verschlafene Stimme, gemeinsam mit einem Klopfen an der Badezimmertür.

Schniefend wischte ich mir übers Gesicht, holte tief Luft, bemüht mich zu sammeln und nicht im nächsten Moment loszuschreien.

„Es geht schon", sagte ich gerade so laut, dass Kyle mich hören konnte.

Ein tiefes Seufzen war zu hören, beinah konnte ich vor meinem geistigen Augen sehen, wie er den Kopf hängen ließ ehe er meinte:

„Okay. Ich mach schon mal Frühstück."

Leicht nickend, wohl wissend dass er mich nicht sehen konnte, seifte ich mich ein, wusch mir die Haare und stellte anschließend die Dusche aus. Tropfend stand ich nackt vor meinem Spiegel. Natürlich sah man mir bereits an, wie die Rückkehr meines Bruders mir zusetzte. Meine Wangen waren leicht eingefallen, Ringe lagen unter meinen Augen, während die Augen selbst gerötet waren. Schnell wandte ich mich ab, wickelte mich in ein großes Handtuch.

„Warum?", flüsterte ich dem weißen Raum entgegen.

Ich erhielt keine Antwort. Wie so oft stand ich alleine da und wusste weder ein noch aus. Wie sollte ich dem wichtigsten Menschen in meinem Leben gegenüber treten, wenn er keine Ahnung hatte wer ich eigentlich war. Wenn er keine Ahnung hatte, dass er mich liebte, keine Ahnung hatte, wie sehr er mich liebte.

Resigniert schüttelte ich den Kopf. Solche Gedanken sollten mir fremd geworden sein und doch waren sie in diesen Minuten alles was in mir vorging. Ich hatte so lange dagegen angekämpft, war sogar davor weggelaufen. Aber jetzt wo er wieder da war und sich nicht mal mehr an mich erinnern konnte, tat es weh. Unwillkürlich wurde mir klar, dass ich mich durch seine bedingungslose Liebe besser gefühlt hatte als je zuvor. Und jetzt ... jetzt würde er mich nie mehr ansehen wie er es früher getan hatte, mich nie mehr am Arm berühren, als wäre es Zufall, obwohl ich wusste, dass es keiner war. Nie mehr, würde er mich im Arm halten und sagen, dass alles gut werden würde.

Frustriert fuhr ich mir durch die nassen Haare, trocknete mich ab, zog mich anschließend an. Ich dachte sorgfältig darüber nach was ich tragen sollte. Schließlich würde ich ihm heute wieder gegenüber treten müssen, ob ich es nun wollte oder nicht. Eine gefühlte Ewigkeit stand ich vor meinem Schrank, bis ich letzten Endes schlichte schwarze Unterwäsche, eine blaue Jeans und ein weißes Top anzog.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now