20. Kapitel

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20. Kapitel

Wie kommt es nur, dass manche Entscheidungen, obwohl sie mehr als richtig sind, uns so unheimlich schwer fallen? Sollten gerade diese nicht umso leichter zutreffen sein? Sollten wir nicht dazu gemacht sein Gutes zu tun? Warum kann das Wohl eines Anderen manchmal so schwierig zu erhalten sein, wenn es doch so simpel sein sollte? Warum neigen wir dazu Menschen die wir lieben zu verletzten, wenn wir doch im Grunde nur ihr Bestes wollen?

Müde und vollkommen fertig wühlte ich mich am nächsten Morgen aus den Laken. Es schien mir unfassbar zu sein, was sich alles in den letzten Stunden, Tagen, ereignet hatte. Die Rückkehr eines fremden Menschen, mein Geständnis gegenüber Hanna und das gegenüber Alex. Das sie überhaupt noch mit mir sprachen, glich für mich an ein Wunder. Gar nicht auszudenken wie manch Anderer darauf reagiert hätte. Oder gar meine Großeltern.

Mit grauenhaften, wild ausgemalten Bildern in meinem Kopf zu einer solchen Szene, stieg ich aus dem Bett und streckte mich gähnend. Alex lag noch leise atmend dort wo er mich in den Schlaf gemurmelt hatte. Lächelnd zog ich mir einen Morgenmantel über und holte die Haare darunter hervor. Eine kalte Dusche und einen starken Kaffee später schrieb ich eine Notiz an meinen Freund und verließ dann das Haus. Es fiel mir keineswegs leicht, aber ich konnte mich nicht länger vor allem drücken. Natürlich wollte ich mein Leben, mein Glück zurück, aber so wie die Dinge jetzt nun mal lagen, beinhaltete er Weg dorthin eine Beziehung zu meinem Bruder aufzubauen und zwar ohne ihn noch mehr zu traumatisieren, als er es ohnehin schon war. Zwar hatte ich noch nicht den blassesten Schimmer wie ich das anstellen sollte, aber irgendwie würde ich es hinbekommen müssen. Für ihn. Für uns.

„Lilly, was machst du denn hier?", fragte mein Grams sichtlich verwundert, als ich zu so früher Stunde während meinem Urlaub bei ihm auf der Matte stand.

Er war bereits für seinen Dienst gekleidet. Heute stand wohl etwas Offizielles an, da er seine Uniform trug und während meine Truppe Urlaub hatte, hatte er keinen, den er herumkommandieren konnte, weshalb die Möglichkeiten für solche Kleidung eher begrenzt waren.

„Na was wohl, ich hatte Sehnsucht nach deinen Arschtritten. Gib's zu, du würdest nur zu gerne ein paar Befehle über das Feld brüllen und mich besonders ärgern, damit niemand denkt, dass du mich bevorzugst", scherzte ich halb und stieß ihm in die Seite.

Grinsend zog er mich in eine Umarmung.

„Schön wäre es. Alle mal schöner als diese nervige Veranstaltung zu der ich heute Morgen muss. Aber sag mal ...", setzte er an, während wir uns losließen, aber er unterbrach sich selbst, als eine weitere Person in den Eingangsbereich trat.

„Guten Morgen Leo. Hast du gut geschlafen?", fragte John höflich.

„Ja, danke. Allerdings brauche ich dringend Kaffee", kam eine ebenso steif klingende Antwort von diesem.

„Nimm doch Lilly grade mit. Ich wette zu Kaffee sagt sie nicht nein. Die Kanne müsste noch voll genug sein für euch beide. Bye Liebes. Wünsch mir Glück, dass ich heil zurückkomme", verabschiedete sich Grams von mir und zog mit einem aufmunternden Lächeln von dannen.

Alleine. Alleine mit ihm. Schon wieder. Und wieder keimte Unbehagen in mir auf. Warum musste das alles nur so verdammt kompliziert und schwer sein?

„Kaffee?", riss Leo mich aus meiner Trance.

Mehr als ein zustimmendes Nicken brachte ich nicht zustande. Leise folgte ich ihm in die Küche, welche ihm nach wie vor Fremd war. Also nahm ich ganz selbstverständlich zwei Tassen aus dem Schrank und stellte sie auf den Tresen, damit er einschenken konnte.

„Ich weiß gar nicht ... willst du Milch? Oder Zucker?", fragte er unsicher.

„Nein danke. Ich trinke ihn schwarz. So wie du. Oder zumindest hast du das getan bevor ...", mir innerlich an die Stirn schlagend hielt ich inne und schluckte den Rest des Satzes herunter.

„Gut zu wissen, dass sich wenigstens eine Sache nicht verändert hat", murmelte Leo und stellte die Kanne zurück an ihren Platz.

Schweigend lehnten wir an der Arbeitsfläche und nippten an unseren Tassen, obwohl der Kaffee dafür eigentlich noch viel zu heiß war, aber scheinbar fiel uns das beiden leichter als die Stille zu brechen und über etwas zu reden. Und wenn es nur das Wetter war.

„Geht es dir ein wenig besser?", erkundigte ich mich dann doch irgendwann, im Bezug auf meinen letzten Besuch in diesem Haus.

Mit einem Ruck stellte Leo die Tasse ab und starrte mich unumwunden an.

„Was denkst du denn? Dass sich seitdem alles in Luft aufgelöst hat? Das mir jetzt klar ist, was ich da gesehen habe?", fuhr er mich zu meiner Überraschung an.

Wow. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Natürlich hatte ich anfangs immer wieder geglaubt, dass er irgendwann einen Wutanfall bekommen müsste, aber nichts dergleichen geschah, und jetzt da es so weit war, überrumpelte es mich vollkommen. Er überrumpelte mich vollkommen.

„Nein natürlich nicht. Ich habe bloß gehofft dass ... ich weiß auch nicht. Du vielleicht wenigstens etwas zur Ruhe gekommen bist", versuchte ich zu erklären, dass ich mir bloß Sorgen machte.

„Gott", murmelte Leo und vergrub sein Gesicht in beiden Händen.

„Tut mir Leid. Ich weiß nicht woher das gerade kam ... ich kann einfach nicht mehr klar denken seitdem und ... und das macht mich ganz krank. Ich weiß es war erst letzte Nacht aber trotzdem ... sobald ich meine Augen schließe sehe ich es wieder vor mir. Es macht mich ... vollkommen wahnsinnig wenn ich ehrlich sein soll", murmelte er, noch immer versteckt, vor sich her.

Behutsam stellte ich meine Tasse ab und griff dann mit derselben Vorsicht nach Leos Handgelenken. Sacht zog ich daran um ihn ansehen zu können.

„Hey. Das ist schon okay. Ich versteh das. Vielleicht sogar besser als mir lieb ist."

Verständnislos blickte er mich an, bis es ihm schließlich zu dämmern schien.

„Anna."

„Anna", bestätigte ich nickend.

Vollkommen fertig ließ er den Kopf hängen und seine Schultern gleich mit. Mit einemmal fiel mir auf, dass ich ihn noch immer festhielt und ließ ihn schnell los. Körperkontakt war und blieb eine schlechte Idee, und doch ... während ich ihn so ansah und ihm auf die gesamte Körpergröße gemeißelt stand wie gebrochen er war, konnte ich nicht anders. Ich nahm ihn in den Arm. Nach kurzem Zögern erwiderte er die Geste und zog mich sacht an sich.

Dieselben widersprüchlichen Gefühle wie immer stiegen dabei in mir auf, doch ich entwand mich ihm nicht. Hier ging es nicht um mich. Es ging um ihn. Es ging darum dass er traumatisiert war und ich ihm nicht verwehren konnte, was ich auch jedem Anderen in so einer Situation gegeben hätte. Das wenige an Halt was ich ihm zu bieten hatte.

„Danke das du da bist", murmelte er in mein Haar.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now