7. Kapitel

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7. Kapitel

Entscheidungen. Wir treffen sie jede Sekunde, jede Minute, jede Stunde, jeden Tag unseres Lebens. Viele glauben, dass die Menschen sich davor fürchten eine Entscheidung zu treffen. Doch das ist nicht wahr. Wir treffen sie schließlich bereits schon vor dem Aufstehen. Die erste Entscheidung eines jeden Tages: aufzuwachen oder weiterzuschlafen. Das ist vermutlich keine bewusste Entscheidung, aber es ist eine. Wir haben also keine Angst davor eine zu treffen, sondern vor dem Wissen, dass wir mit den Folgen unserer Entscheidungen leben müssen. Wir können es uns nicht plötzlich anders überlegen. Sobald wir eine Entscheidung gefällt haben und danach handeln, war es das. Dann gibt es kein Zurück, keine Entschuldigung oder Zeitmaschine, um es ungeschehen zu machen. Manche mögen vielleicht verzeihen, doch sie werde immer wissen, was wir getan haben. Ihnen wird im Hinterkopf bleiben, dass wir dumm und töricht waren. Sie werden nie verdrängen können, dass wir vielleicht einmal nicht mehr wollten, nein sagten oder beinah starben um etwas aus dem Weg zugehen.

Genau wie Leo niemals vergessen würde, dass ich nein gesagt hatte. Selbst wenn er sich jemals wieder erinnern sollte, wie sehr er mich liebte, würde er immer wissen, dass ich es abgelehnt hatte ihm zu helfen. Wie sollten er oder ich darüber hinwegkommen? Konnte man das denn? Ich musste mit meiner Entscheidung leben. Er musste es auch. Meine Familie musste es, ebenso wie Alex und Hanna. Denn niemand konnte etwas an diesem Nein ändern. Ich hatte es gesagt. Nun stand es im Raum und würde nicht mehr verschwinden. Nie wieder.

„Mein kleiner Engel, was ist nur passiert?", hörte ich die Stimme von Anna an mein Ohr dringen.

„Anna?", sagte ich und sah mich nach ihr um.

Dort stand sie im Türrahmen meines Zimmers, in dem weißen Kleid ihres letzten Geburtstages. Liebevoll schaute sie mich an und kam zu mir. Ich rutschte ein Stück, damit sie sich aufs Bett setzten konnte, was sie auch tat. Gedankenverloren strich sie mir das Haar aus dem Gesicht.

„Nun? Wie konnte das passieren? Warum willst du ihm nicht helfen? Ich weiß du liebst ihn. Also warum kleiner Engel, möchtest du nicht, dass er sich daran erinnert?", fragte sie mich erneut.

„Ich will einfach nicht ... ich möchte das er eine Chance auf einen Neuanfang hat. Er ist damals genau deshalb zum Militär gegangen. Und auch wenn es für ihn nicht einfach ist, ich glaube er würde meine Entscheidung verstehen. Ich tue das für ihn", erklärte ich ihr leise, aber weil sie war wer sie war, konnte ich sie nicht täuschen.

„Und jetzt sag mir den wahren Grund", forderte sie und griff nach meiner Hand, welche vor meinem Gesicht auf dem Kopfkissen lag.

Seufzend blickte ich zu ihr hoch, in ihre wachen Augen. Warum musste sie auch nur eine solch gute Beobachterin sein?

„Es ist Folter Anna. Für mich gibt es nicht Schlimmeres, als all das noch einmal durchmachen zu müssen. Habe ich denn nicht das Recht, auf eine Auszeit von den Problemen dieser Welt? Das Recht auf ein wenig Glück für mich selbst? Warum muss immer ich es sein, die alles gerade biegt? Warum Anna?"

Mitfühlend lächelte sie mich an und aus welchem Grund auch immer, fühlte ich mich sicher und geborgen, allein durch diese simple Geste.

„Ich würde gerne behaupten, dass man nur so viel aufgeladen bekommt, wie man tragen kann, aber wir wissen Beide, dass das nicht stimmt. Leider trifft es manche härter als Andere. Wir können es nicht ändern mein Engel. Wir müssen einfach lernen damit zu leben und das Beste daraus zu machen", versuchte sie mir gut zuzureden, doch es half nichts.

Meine Bedenken und Ängste blieben wo sie waren. Eingemeißelt in mein Herz, meine Gedanken und meine Seele. Mein Gewissen redete mir unterschiedliche Dinge ein und ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung ich mich ziehen lassen sollte. Um mich von all dem abzulenken, schaute ich meine Schwester an, die nicht meine Schwester war. Warum nur, konnte in meiner Familie niemand sein, wer er zu sein schien? Warum mussten sich alle mit Geheimnissen umgeben? Aber war ich denn so viel anders als sie? Hielt ich denn nicht mehr Dinge vor ihnen und all den Menschen um mich herum verborgen, als alle Anderen?

My Brothers Keeper (TNM-#2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt