17. Kapitel

11.4K 601 50
                                    

17. Kapitel

Die Vergangenheit rennt einem nicht nach. Sie lässt einen aber auch nicht los. Sie begleitet einen, ganz gleich wohin man geht und was man tut. Manchmal löst ein Ereignis Erinnerungen in uns aus, welche wir lieber vergessen würden. Lässt uns an einen Teil unserer Vergangenheit und uns selbst denken, welchen wir lieber vergessen würden. Doch das kann man nicht. Im Grunde will man es auch gar nicht. Nicht wenn man wirklich darüber nachdenkt. Denn würde man damit beginnen seine Vergangenheit, ganz gleich ob gut oder böse, zu verleugnen, würde man sich selbst verleugnen.

Ruckartig fuhr ich hoch und schaute mich verwirrt um. Wo war ich? Wie war ich hergekommen?

Es dauerte eine Weile, bevor ich realisierte, das ich den Raum kannte in dem ich war. Sinnflutartig kamen mir die Ereignisse der vergangenen Nacht in den Kopf. Leos Ausbruch welcher mich nicht wirklich verstört hatte, denn ein Teil von mir hatte bereits gewusst, dass er möglicherweise in diesem Zustand zurückgekommen war. Krank. Nicht bloß ohne Erinnerungen, sondern mit einer großen Last, welche er nicht mal eben so oder alleine loswerden würde. Leo brauchte Hilfe. Dringend. Blieb nur die Frage, wie das ihm und besonders Eleonora und John begreiflich machen sollte.

Eine Regung zu meiner Rechten zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Leo schien von meinen unglaublich laut in mir tobenden Gedanken wach geworden zu sein. Seine Intuition hatte er demnach allem Anschein nach nicht verloren. Doch genau wie ich hatte er wohl für einen Moment vergessen, was am gestrigen Abend geschehen war, denn als er mich sah, sprang er aus dem Bett und schaute sich hektisch um. Langsam setzte ich mich auf, griff sanft und ohne nachzudenken nach seiner Hand, zog leicht an ihr, damit er sich zu mir setzte. Es war dumm von mir, aber ich hoffte schlichtweg, dass es funktionierte und er nicht noch mehr außer sich geriet. Mein naives Flehen wurde scheinbar erhört, denn sobald unsere Hände sich berührten, schaute er auf sie, schloss für einen Moment die Augen, strich mit seinem Daumen über meinen. Spürte wohl wie Haut auf Haut traf und unsere Körperwärme sich vermischte. Zumindest war es das, was ich fühlte.

Stumm öffnete er wieder die Augen und setzte sich neben mich.

„Tut mir Leid", wiederholte er seine Worte.

„Schon okay", tat ich es ihm gleich.

Eine Weile saßen wir still da. Leo hielt weiter meine Hand, als wäre ich sein Rettungsanker, sein einziger halt. Der Gedanke macht mir Angst. Ließ in meinem Inneren die Frage aufkeimen, ob es womöglich so war und falls ja, was es für ihn bedeutete. Einsamkeit, schloss ich nach einer Weile. Es bedeutete Einsamkeit. Wenn ich der einzige Mensch war, an dem er festhalten konnte, war er bereits verloren. Denn ich konnte ihm nicht geben, was er von mir brauchte. Nicht mehr.

„Leo", brach ich nach einer Weile die Stille.

„Ich weiß Lil. Ich weiß", murmelte er und ich erstarrte.

Mein Herz machte einen winzigen, dummen Sprung und mein Atem geriet ins stocken.

„Was hast du gerade gesagt?", fragte ich, auch wenn ich die Antwort bereits kannte.

Denn ich hatte ihn klar und deutlich gehört, beinah so, als hätte er mir es entgegen geschrieen.

„Ich sagte, dass ich es bereits weiß", wiederholte Leo.

„Nein, dass meine ich nicht. Wie hast du mich gerade genannt?", hakte ich nach, in der Hoffnung er würde sich erinnern.

„Lilly?", erwiderte er verständnislos.

Enttäuschung machte sich in mir breit, denn auch wenn ich bereits geahnt hatte, dass er nicht noch einmal Lil zu mir sagen würde, hatte ich es doch gehofft.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now