25. Kapitel

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Es war, als würde man in die Sonne schauen. Der Anblick war zu schön um wegzusehen, aber man wusste gleichzeitig, dass wenn man nicht schnellstmöglich wegschaute, bleibende Schäden entstehen würden. Etwas, das man auf gar keinen Fall wollte. Aber es änderte nichts an der Tatsache, dass es schwer fiel, den Blick abzuwenden. Leo war für mich wie die Sonne, seine Entwicklung. Schwer zu ertragen, noch schwerer, sich davon abzuwenden. Vor allem, da er es darauf anlegte, es mir so schwer wie möglich zu machen. Ich wusste nicht, woher sein Wandel mit einemmal kam, aber es bereitete mir ernsthafte Sorgen. Was wäre, wenn jede weitere Begegnung mit mir ihn mehr veränderte? Konnte, wollte ich dass wirklich verantworten?

Er überließ mir meine Hand, sobald ich den Gang rausnehmen musste, um zum stehen zu kommen. Als wir vor dem Haus meiner Großeltern gehalten hatten, stellte ich den Motor ab, zog die Handbremse an und blickte starr aus dem Fenster. Wie verabschiedete man sich von jemandem, von dem man sich noch nicht trennen wollte? War es total verrückt, dass ich jedes Mal wenn sich unsere Wege trennten, die unbändige Angst in mir aufkeimte, ihn nie wieder zu sehen, obwohl er jetzt wieder zu Hause war und so schnell nirgendwo anders hingehen würde? War es Geschwisterliebe die dabei aus mir sprach oder simple Sorge um einen Fremden? Oder womöglich doch etwas vollkommen Anderes?

„Schätze das ist der Teil, an dem du mich aus deinem Wagen wirfst", brach Leo irgendwann die Stille, machte dabei jedoch keinerlei Anstalten auszusteigen.

„Deinem Wagen", murmelte ich nur und knetete mit einer Hand die Andere.

„Wie bitte?"

Leise seufzend blickte ich zu ihm und wiederholte:

„Deinem Wagen. Eigentlich ist es dein Auto. Als du gegangen bist da ... da hast du es mir überlassen mit der Erlaubnis es solange zu benutzen, bis du wieder zurück bist. Erinnerst du dich? Wir haben ganz am Anfang darüber gesprochen gehabt."

Forschend schaute er mich an.

„Ich denke schon. Meine Rückkehr ist um ehrlich zu sein nicht so richtig klar in meinen Gedanken", sagte Leo und lächelte dabei ein wenig.

Zu gerne hätte ich die kleine Geste erwidert, aber ich war nicht dazu in der Lage. Und außerdem hatte ich ihm noch nicht auf seine Frage geantwortet.

„Danke. Aber ja, dass ist der Teil an dem ich dich bitte auszusteigen."

„Wann sehen wir uns wieder?", wollte er wissen.

„Ich weiß nicht. Morgen schätze ich. Ich komm vorbei sobald ich kann", versprach ich.

„Wirklich?"

„Wirklich."

„Na schön. Dann sehen wir uns morgen. Ich werde warten", mit diesen Worten verabschiedete er sich, öffnete die Tür und stieg aus.

Bevor er sie wieder schloss, steckte er noch mal den Kopf ins Auto und sagte:

„Danke dass du mit mir dort warst. Das bedeutet mir wirklich sehr viel."

Dann verschwand er in Richtung Haus und verschwand letzten Endes darin, während ich noch eine Weile davor stehen blieb und nachdachte. Ich konnte einfach nicht bestreiten dass ich etwas in Leo verändert hatte. Was zum Teufel war nur passiert, als er an seinem Grab stand?

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Ich konnte es mir nicht verkneifen, sie noch eine Weile zu beobachten, während sie weiterhin vor dem Haus parkte. Man konnte mehr als deutlich erkennen, dass sie fieberhaft nachdachte. Sie ahnte es. Ich war nicht wirklich naiv genug gewesen zu glauben, dass sie es nicht bemerken würde, aber ein Teil von mir hatte es sich trotzdem gewünscht. Wie sollte ich ihr etwas erklären, dass ich selbst noch nicht ganz begriff? Alles was ich wusste, war dass ich etwas gesehen hatte. Der Blick auf den Grabstein mit der Innschrift, hatte etwas ausgelöst, dass mich nicht mehr losgelassen hatte, bis sich anfingen Formen vor meinem geistigen Auge zu bilden. Und wieder ... wieder war es Lilly. Doch im Gegensatz zu meinen bisherigen Träumen, waren diese Bilder so unglaublich klar und deutlich, dass ich keinerlei Zweifel daran hegte, dass sie echt waren. Ich konnte sie sehen, riechen, fast schon unter meinen Fingerspitzen spüren.

Als ihre Finger kurz meine Haut streiften, bekam ich warum auch immer, eine Gänsehaut. Sie krabbelte in die Mitte meines Bettes. Ihr Kopf schwebte über meinem. Das Grün ihrer Augen stach nicht, es erinnerte mich an das eines Smaragdes. Kein Wort kam über ihre Lippen. Stattdessen legte sie sich hin. Mein Kopf ruhte vor ihrem Bauch, ihr einer Arm lag neben meinem Körper, ohne mich zu berühren. Ihr leiser Atem beruhigte mich, erinnerte mich daran dass ich nicht alleine war, auch wenn ich mich gerade so fühlte. Ich griff nach ihrer Hand und legte sie, von meiner noch immer umfasst auf meine Brust.

Der Mond schien bereits in mein Zimmer, als meine Schwester sich leicht regte und mir ihre Hand entziehen wollte. Ich hielt sie kurz fest, unfähig sie loszulassen, dann gab ich sie frei. Lil stand auf und ich erwartete dass sie ging, doch stattdessen kniete sie sich neben meine Beine und zog mir meine Schuhe aus. Die schweren Militärschuhe verließen meine Füße und fanden ihren Platz, irgendwo in meinem Zimmer. Sie brachte mich dazu mich richtig in meinem Bett zu legen und deckte mich zu. Lil wollte gehen, aber ich griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Ich wollte nicht mehr alleine sein. Wollte nicht, dass sie in den nächsten Raum ging und sich alleine mit ihren Albträumen rumschlug.

Sie streifte ihre Schuhe ebenfalls ab und kroch zu mir ins Bett. Stumm lagen wir neben einander und hielten uns mit geschlossenen Augen an den Händen.

„Ich wünschte, ich wüsste was in dir vorgeht."

Dann drehte sie sich von mir weg. Ihre Atmung wurde langsamer und flacher und ich murmelte:

„Du. Immer nur du."

„Lil", murmelte ich und wandte mich vom Fenster ab.

Sie war nicht Lilly für mich gewesen, sondern Lil. Sie war mir tatsächlich sehr nah gewesen. So nah, dass sie sich um mich gekümmert hatte und ich mich um sie. Ihre Albträume hatten mich beunruhigt. Aber warum hatte sie sie gehabt? Wovor hatte sie solche Angst gehabt?

„...ich kann es noch immer in meinen Träumen hören..."

Großer Gott, Anna. Das Knacken ihrer brechenden Knochen. Lil hatte Albträume vom Tot unserer Schwester. Oder gab es noch etwas Anderes?

Zerknirscht raufte ich mir die Haare. Woher sollte ich schon wissen, woher ihre Albträume gekommen waren? Bis vor wenigen Minuten hatte ich noch nicht einmal von der Existenz jener Träume gewusst, auch nur geahnt. Geschweigedenn von dem Kosenamen den ich für sie gehabt hatte. Und wieder einmal musste ich mir eingestehen, dass ich nicht den blassesten Schimmer hatte. Von nichts und niemandem. Schon gar nicht von ihr.

My Brothers Keeper (TNM-#2)Where stories live. Discover now