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Es ist dunkel, kann kaum etwas erkennen. 
Aber irgendwie weiß ich, dass es noch nicht so spät ist.  Die Sonne ... Sie ist noch nicht so kräftig, bleibt auch noch nicht so lange am Himmel ... 
Ich versuche mich zu konzentrieren, bekomme ein ungutes Gefühl, kann aber nicht sagen, woher und warum es kommt. 
Auf einmal geht alles ganz schnell. 
Ich befinde mich im Grünen ... Vielleicht ein Wald? Zumindest sind da Bäume. Ist das ein Graben? Ausgestreckte Hände ... Es sind meine. Sie versuchen nach etwas zu greifen. Nach ihr. Am Boden. Dann wird es hell ... 

»Beruhige dich. Jules, bitte. Kannst du mich hören?« 

Meine Augen sind vor Schreck weit geöffnet, so fühlt es sich an. Als ich die Stimme wahrnehme, fahre ich rum. 

Ben sitzt da, neben mir am Bett. Mein bester Freund Schrägstrich eher gefühlter Bruder. In seinem Gesicht kann ich seine Sorgen sehen. Er lässt mir noch einen kleinen Augenblick. Er spielt währenddessen mit meinem Schlüsselanhänger rum, was mir missfällt. 

»Jules, ist alles ok?« 

»Ja, denke schon.« 

»Was war denn eben?« 

»Scheiß Traum.« 

»Willst du quatschen?« 

»Nee, lass mal. Welchen Tag haben wir?« 

»In zwei Tagen, wenn alles gut läuft, kannst du nach Hause.« 

»In zwei Tagen schon?« 

»Anscheinend hast du gestern mehr oder weniger durchgeschlafen. Fay sitzt unten, deine Eltern sind eben mal nach Hause und ich bin so lange hier.« 

»Du hast Fay gesehen?« 

»Ja klar. Wieso nicht?« 

Er hat Fay gesehen. Also ist sie wirklich da! Sie lebt. Was war denn dann mit mir los? Wegen dieses Schlags? Wegen dem, wo von ich nichts mehr weiß? Kann eine Gehirnerschütterung so etwas auslösen? Dass ich mir einbilde, sie leblos gesehen zu haben? 

»Jules?« 

»Hm?« 

»Oh mensch, du bist ja ganz schön durch.« 

»Vielleicht wurden noch mehr Schrauben durch den Schlag gelockert.« 

Ben muss lachen und ich steige mit ein, was meinen Schädel wieder animiert zu brummen. 

»Ich glaube mit Fay ist irgendetwas komisch.« 

»Was meinst du?« 

»Als ich vorhin ankam, habe ich sie, von weiter weg, gesehen und ihr zugewunken, aber sie hat nicht reagiert. Aber vielleicht macht sich auch einfach Sorgen und war mit dem Kopf woanders. Ich weiß nicht, war einfach merkwürdig.« 

»Oder sie hat dich nicht gesehen?« 

»Ich denke schon, aber egal. Tut mir leid, jetzt auch unwichtig. Wie geht es dir?« 

»Ehrlich gesagt keine Ahnung. Ich hab bis eben geschlafen. Mein Kopf ballert, aber bisher fühlt es sich schon etwas besser an. Ich bin froh, wenn ich nach Hause kann.« 

»So Jules, deine Eltern kommen gleich und ich muss leider zur Arbeit zurück. Wir sehen uns die Tage und du meldest dich spätestens, wenn du entlassen wurdest, ok?« 

»Ok. Danke, dass du hergekommen bist.« 

Ben macht sich echt Sorgen um seine beste Freundin alias Fühl-Sis, wie er mich nennt. Er meinte noch, dass ich Acht geben soll. Fay sei vielleicht nicht mehr sie selbst, es liegen einige Jahre zwischen unserer damaligen Beziehung und unserem Wiedersehen, welches noch nicht lange her ist. Als er mich zum Abschied drückt, gibt er mir meinen Anhänger wieder. 

-

Kann Ben recht haben? Können Menschen sich so von einem selbst weg entwickeln? 

Klar, Fay und ich haben uns ganze sechs Jahre nicht gesehen. Aber sie kam zurück, vor einem halben Jahr in etwa. Sie hat sich gleich bei mir gemeldet, dass sie wieder in the City wäre und mich gefragt, ob ich sie sehen wolle. 

Mein Herz hatte so wild geklopft, dass ich dachte, es kommt mir vorne raus und ich würde es gleich in meinen Händen halten. Alles prasselte auf mich ein, mit meinem Handy in der Hand, nicht fähig, direkt zu antworten, lief ich im Raum auf und ab, konnte meine Gedanken überhaupt nicht ordnen, wusste nicht, was ich fühlen sollte. 

Schlussendlich, ohne mit jemanden darüber gesprochen zu haben, bin ich auf die Verabredung eingegangen. Hätte ich mich vielleicht doch vorher mit Ben bequatschen sollen? Aber es war ja irgendwie meine Entscheidung. Und ich wollte erst einmal für mich herausfinden, was das alles wird und was sie überhaupt zu sagen hat und alles. 

Sie ist eben sechs Jahre älter wie auch ich und sie schien nicht mehr so extrem zurückhaltend zu sein. Das überraschte mich sehr, am meisten um mal ehrlich zu sein. 

Was mache ich mir jetzt eigentlich einen Kopf darum? 

Ich sollte mich doch freuen. Sie lebt. 

Wo ist sie jetzt eigentlich gerade? Warum kommt sie denn nicht zu mir ins Zimmer? Will sie mich nicht sehen? Aber sie war ja immerhin zum Essen nach dieser Nacht bei meinen Eltern. 

Es verwirrt mich alles. Was war in dieser Nacht geschehen? Meine Eltern wissen irgendetwas, sie schauten betreten weg. Ich muss herausfinden, was sie wissen. 

Wo war Fay in der Nacht? Waren wir trotzdem gemeinsam unterwegs? 

Wer hat dem Arzt etwas dazu erzählen können und vor allem was? Ich würde es auch gerne erfahren. 

Habe ich mir das Blut auch bloß eingebildet? Ist das menschliche Gehirn dazu fähig? Wahrscheinlich schon, aber es schien mir doch sehr real. Wenn es nicht Fay war, wer war es dann? Welche merkwürdigen Streiche spielt mir mein Hirn? 

Ich verstehe irgendwie gar nichts. Und wen soll ich ansprechen? Es wären ja doch sehr eigenartige Fragen. Wie soll ich so etwas erklären, wo ich noch nicht einmal weiß, was an meinen Gedanken dran ist und was nicht. Ich muss eine andere Lösung dafür finden. 

Das Geräusch der Türklinke reißt mich aus meinem Gedankenchaos heraus und lässt mich hochschrecken. 

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