about Mika // train ride

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Mika konnte sich noch genau an den Tag erinnern, an dem er mit seinem Großvater gebrochen hatte.

Wie so oft auf der Zugfahrt quer durch Sachsen schaltete er die Musik für einen Teil der Strecke aus, setzte die Kopfhörer ab und sah aus dem Fenster. Die Bierflasche, die er festhielt, passte genau in seine Hand. Inzwischen hatte sich die Kohlensäure darin vermutlich verflüchtigt, doch er dachte nicht daran, wie schal das Getränk schmecken würde, sobald er einen weiteren Schluck davon nahm.

Vor seinem inneren Auge spielte der Film ab, von dem sein Gedächtnis hundert Backups gespeichert zu haben schien. Jedenfalls ließ sich die Erinnerung an sein erstes Bier auch durch seinen neuerdings exzessiven Konsum von Partydrogen nicht ausradieren.

Er hatte mit seinem Opa im Garten gesessen, in Neusörnewitz, wo seine Mutter aufgewachsen war. Der Regio, in dem er saß, glitt unaufhaltsam in Richtung der kleinen Gemeinde, in der seine Großeltern bis heute lebten. In dem Sommer, bevor er eingeschult wurde, hatte er sie hier das erste Mal besucht. Und danach alle Jahre wieder.

Bis zu seinem sechsten Geburtstag war er in Berlin dreimal um die Ecke gebogen und bei ihnen gewesen. Seiner Oma und seinem Opa. Kurz vor seiner Einschulung hatten sie ihm schrecklich gefehlt. Seit sie ihre Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss aufgegeben hatten, hatte er sie nicht mehr gesehen.

Doch in der Hauptstadt wären sie unzufrieden, klärten sie ihn am Telefon über die Gründe für ihre Entscheidung auf, zurück in den tiefsten Osten zu ziehen. Sein Großvater hätte nämlich für sich und seine Frau ein Haus in Neusörnewitz gebaut, als seine Mutter noch jünger gewesen war als Mika zum damaligen Zeitpunkt.
„Ein richtiges, großes Haus?", hatte er erstaunt gefragt.
„Eher ein kleines", korrigierte seine Oma. „Aber auf jeden Fall ein richtiges."
Mika bewunderte seinen Opa nur noch mehr, seit er davon erfahren hatte. Opa baute also nicht nur die besten Sandburgen, sondern auch die tollsten Häuser.

Bald nach seiner Ankunft im Heimatkaff seiner Mutter, entdeckte er allerdings, dass das Haus ein paar Konstruktionsfehler aufwies; dass es eine undichte Stelle in der Wellblech-Decke des Schuppens gab zum Beispiel, und dass der Boden in der Küche so schief war, dass man darauf die besten Murmelrennen veranstalten konnte.

Sein allererstes Bier war auf jeden Fall kühl gewesen, und das an einem heißen Tag im Sommer. Sein Opa hatte die Flasche für ihn geöffnet und Mika trank sie wesentlich schneller aus als die selbstgemachte Limonade, die seine Oma ihm zur Erfrischung gebracht hatte, denn die war zuckerreduziert gewesen. Außerdem hatte sie Ingwer untergemischt.

Damals hatte Mika den Geschmack von Ingwer noch gehasst. Inzwischen kam er gut zurecht mit der Schärfe. Nicht zuletzt, weil Kitty andauernd irgendwas mit Ingwer kochte. Japanische Familienrezepte. Es schmeckte trotzdem, und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte er sich mit der pikanten Note abgefunden, ohne seiner Freundin je zu erzählen, dass die Gerichte nichts für ihn waren. Er würde sich nie über Essen beschweren, das man ihm ungefragt auftischte. Es war unhöflich, daran herumzukritteln, solange ihn niemand um seine Meinung bat. Das hatte seine Oma ihm deutlich zu verstehen gegeben, als sie bemerkte, dass ihr Enkel lieber an der Flasche nuckelte als an dem DDR-Glas, das sie für ihn gefüllt hatte. Natürlich hatte sie auch Mikas Opa eine kräftige Standpauke gehalten; ob er es darauf anlegte, dass seine Tochter mit ihm stritt, sobald sie käme, um ihren Sohn abzuholen.

Mika war damals noch zu klein gewesen, um zu verstehen, warum seine Mutter und sein Großvater sich so oft in den Haaren lagen.

Er mochte seinen Opa, er war der coolste Mann, den Mika kannte. Mit Opa zusammen durfte er alles ausprobieren. Er durfte auf die Apfelbäume klettern, bis ganz nach oben, er durfte den Dobermann von ihrem bierbäuchigen Nachbarn ausführen, ein Ungetüm von Hund das ähnlich groß war und ähnlich viel wog wie Mika selbst, und das außerdem einen Maulkorb tragen musste; und einmal – danach hatte Mikas Mutter seinen Opa angeschrien, sich ihren Sohn unter den Arm geklemmt und ihn ins Auto gesetzt – da hatte sein Großvater Mika drei Kugeln Eis mit Eierlikör obendrauf versprochen, wenn er Nikki, den Jungen von gegenüber, der ein Jahr älter war, aber nur ein winziges Bisschen kräftiger als Mika, in einer Prügelei besiegen würde. Tatsächlich hatte Mika gewonnen und das Blut, das aus seiner Nase in seinen Eisbecher getropft war, schmeckte durch den großzügigen Klecks Apfelmus gar nicht schlimm. Er hatte die drei Kugeln verputzt und kurz darauf Bauchweh. Außerdem blutete seine Nase nach wie vor und er konnte seine rechte Hand nicht mehr bewegen, ohne dass es wehtat, weil Nikki sie mit seinem ganzen Körpergewicht zu Boden gedrückt hatte bei ihrer Rauferei.
Als seine Mutter ihn unsanft ins Auto verfrachtete, um stante pede zurück nach Berlin mit ihm zu düsen, erbrach er sich in den Fußraum vor dem Beifahrersitz und brachte sie damit zum Weinen.

„Nächster Halt: Neusörnewitz." Mika stand mechanisch auf und griff nach seinem Rucksack, den er auf die Gepäckablage geschoben hatte.

Sein Großvater war ein kranker Spinner. Es hatte immer Anzeichen gegeben, aber so richtig hatte er das erst begriffen, als er ihm mit sechzehn, in dem Jahr, nachdem er sitzengeblieben war, von Iara erzählt hatte. Davon, wie in ihrer Klasse Gerüchte über sie gestreut wurden, die gar nicht stimmten, zum Beispiel, dass sie nur einmal im Monat duschen würde. Dabei duftete Iara sehr viel angenehmer als Mika, besonders nach dem Sport. Wenn sie in der Stunde darauf nebeneinandersaßen, nahm er den leichten Geruch nach Cannabis an ihr wahr. Als er sie darauf ansprach, zuckte Iara bloß unsicher die Schultern.
„Die Freunde von meiner Schwester kiffen viel", erklärte sie ihm. Sein Opa hörte ihm geduldig zu, während er von seiner Freundin sprach. Doch als Mika endlich ein Foto auf seinem Handy von ihr gefunden hatte und es ihm vors Gesicht hielt, schlug seine ruhige Stimmung sofort ins Gegenteil um.
„Du fickst eine Neger-Schlampe?", hatte er ihn gefragt und Mika war, als würde das Blut in seinen Adern gefrieren.
„Bist du bescheuert?", fragte er automatisch zurück. „Bist du ein verkackter Rassist?", schob er noch hinterher und das nächste, was er hörte, war das Klatschgeräusch als die flache, raue Hand seines Großvaters auf seine Wange traf.

Und Mika hatte einfach zurückgeschlagen. Seinem Opa mitten ins Gesicht. Aus dem Affekt.

„Tut mir leid", entschuldigte er sich reumütig. Aber seit diesem Vorfall sprach sein Opa kein Wort mehr mit ihm. Der Mann, der ihm das allererste Mal eine Säge in die Hand gedrückt hatte, mit sechs Jahren. Zuerst hatten sie zusammen ein Stück Holz von einem Brett abgesägt, das in der Werkstatt seines Opas herumlag und letztlich hatte sein Großvater ihn ermutigt, es allein zu versuchen. Mika hatte sich nicht verletzt, er hatte sich nicht mal einen Splitter zugezogen. Ob ihn Glück oder Talent davor bewahrt hatten, sich die Fingerkuppen abzusägen, konnte er im Nachhinein nicht sagen.

Er lief die Treppen runter zur Tür, den Rucksack locker geschultert, bereit zum Ausstieg. Dabei blickte er aus dem Fenster und fragte sich, ob er wohl einen anderen Beruf ergriffen hätte, wenn sein Opa nicht gewesen wäre, und die Säge und das Stück Holz.

Wenn sein Opa kein verkackter Rassist wäre, würde Mika interessieren, was er heute über seinen Enkel dachte. Ob er ihn für eine Memme hielt, weil er sich nur noch beim Judo prügelte; weil er schon mit schwarzen Frauen geschlafen und mit Männern immer mal wieder rumexperimentiert hatte; weil er mit Frauen befreundet war, ohne mit ihnen zu schlafen; weil seine feste Freundin Japanerin war, also eine von den Schlitzaugen, wie sein Opa sie sicher nennen würde ...

„Was mach ich hier?", murmelte er zu sich selbst. Die Zugtüren schlossen sich hinter ihm.

Mika ließ seinen Rucksack neben den Mülleimer auf den Bahnsteig fallen, setzte sich im Schneidersitz auf den sonnengewärmten Beton und griff in die Innentasche seiner Jacke. Longpapes und Gras hatte ihm keiner gestohlen. Außer ihm war niemand in Neusörnewitz ausgestiegen. Er war allein auf dem Bahnhof.

Er exte die halbleere Bierflasche und verzog dabei angewidert das Gesicht. Keine Kohlensäure, bloß Hopfen-Plörre. Nachdem er das Glas entsorgt hatte, baute er sich einen Blunt. Er war nur hergefahren, weil seine Mutter ihn gebeten hatte, nach seiner Oma zu sehen. Sie selbst hätte zu viel Angst, ihrem Vater gegenüberzutreten. Er wusste nicht, warum er ihr einen Gefallen tat, als wäre er ihr noch einen schuldig.

Nichts wichtigesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt