riding shotgun // OS

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Diesen Oneshot habe ich aus Marias Sicht verfasst. Das ist Vincents Ex-Freundin, wie Leser* von "So genial" vielleicht wissen. Es ist ein kleiner literarischer Erguss, der davon künden soll, wie es ist, wenn jemand einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat, der schon lange fort ist. Ich habe mich an Elifs Song "Beifahrersitz" entlanggehangelt, den ihr euch oben anhören könnt. Allgemein befruchtet Musik all meine Texte. Ihr dürft mich dazu jederzeit befragen. Danke an jeden, der sich die Zeit nimmt, diese Sachen zu lesen.

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Zwölf mal zwölf, das sind ... 144. Deine alte Hausnummer. Zwölf mal, bin ich zwölf Uhr nachts rausgefahren. Hab bei deinen Eltern vor der Tür geparkt, bin ausgestiegen. Die Kippe zwischen Daumen und Zeigefinger. Jederzeit bereit, sie fallenzulassen.
Jederzeit bereit dafür, dass die Lampe in deinem Zimmer angeht und das Licht den sich langsam formenden Morgentau auf der Thuja-Hecke glitzern lässt ... Auf diese blindmachende Art wie auch deine Augen immer geglitzert haben, wenn ich vor dir stand, wie Gott mich schuf.

Du hattest diese Phase, in der du nicht an Gott geglaubt hast, erinnerst du dich daran? Vincent Stein liest die großen Philosophen.
Ich hab dich ausgelacht. Nietzsche hatte es dir so angetan. Ich weiß noch, wie beeinflussbar du warst; und wie du nicht wolltest, dass ich davon erfahre. Aber ich war doch dabei, Vincent; ich war doch dabei.

Wenn dann zwölf Minuten vergangen sind, bin ich wieder eingestiegen. Die Zigarette jetzt zwischen Mittel- und Ringfinger. Beide hab ich dir immer abwechselnd gezeigt. Aber am Ende hast du nur noch den Scheiß-Mittleren gesehen. Und seit unserm Honigmond-Untergang glitzert ein Silberring mit Morgentau-Diamant am andern.

Motor an, raus aus dem Halteverbot, vor an die Ampel. All das mit wässrigen Augen. Bloß von der Kälte. Sobald mein Wattehirn den Geruch von Rauch wieder erkennen konnte, hab ich das Fenster runtergelassen. Oft exakt dann, wenn die Ampel auf Grün geschaltet ist. Lieber frieren als die Sitze vollqualmen in diesem Schlitten, der nie mir gehören wird.
Geschenke von dir bleiben Geschenke von dir auf ewig. Ich hätte dich drauf sitzenlassen sollen, auf allen zwölf mal zwölf. Allen 144.

Der McDonald's an der nächsten großen Kreuzung zwinkert mir zu, wenn ich daran vorbeirausche. Die Reklame tat ihren Dienst früher genauso rebellisch wie du, und du hast dir regelmäßig einen Spaß draus gemacht, mich zu küssen, wenn es auf einmal dunkel um uns herum wurde. Ich hab's dir nie gesagt, aber ich wollte, dass du nie mehr damit aufhörst.
Was wäre uns nicht alles erspart geblieben, hättest du die Hurensöhne ignoriert, die gehupt haben, weil sie ja unmöglich auf ihr Mitternachtssparmenü verzichten mochten.
Wir stünden immer noch in dieser Einfahrt.
Du würdest mich noch immer so küssen wie Pygmalion Galatea; den unverwechselbaren Geschmack von McSundaes mit Schokosoße auf den Lippen.

Viele Häuserblocks entfernt, sicher zwölf, hat Erdems Vater seinen Späti. Der alte Mann erkennt mich nicht mehr. Letztes Mal hat er mir wortlos die Capri-Sonne zugeschoben und sich weggedreht. Ich bin gegangen und hab eine der Münzen unbemerkt wieder eingesteckt von denen, die ich auf den handbemalten Porzellanteller geworfen hatte. Ja, ich bestehle ihn auch nach all den Jahren noch. Du hast dich ja nie getraut. Hast die fünfzig Cent auch nie gebraucht.
Keine Ahnung, wie ich dieses süße Zeug süffeln konnte damals. Mit dir ging's irgendwie. Aber zwei Esslöffel Zucker auf 200 ml, das ist krank ... Du warst so ein Süßmaul.

Sie spielen wieder Sinead O'Conner nachts im Radio, weißt du das? Heute muss man eine Weile danach suchen. Hab ich gemacht. Den ganzen Weg bis zum Funkturm lag meine Hand auf der Taste. Nächster Sender, nächster Sender, nächster Sender – „Liebe ist ..." von euch, und ich halte inne.
Es ist komisch, tief innendrin zu wissen, dass deine Texte von mir handeln.
Plötzlich Sinead. Ich habe die Taste doch nochmal gedrückt. Das ist derselbe Reflex wie weglaufen.
Du hast dieses Lied verachtet. Deine Stimme erklingt pur in meinem Ohr, nach wie vor, wenn er läuft. Denn bei „Nothing Compares to You" hast du dich gezwungen gesehen, mitzusingen. Manchmal war es richtig, richtig gut. Und ich hatte in diesen gestohlenen Momenten das Gefühl, du singst nur für mich. Das hab ich dir auch nie gesagt. Es war wirklich schön ...

Ich bin aufs Messegelände gefahren, einfach irgendwo auf den Bürgersteig; hab Sinead zugehört, drei Minuten.
Leere Capri-Sonne, leerer Beifahrersitz. Wenn ich die Plastikverpackung darauf ablege, kribbelt mein Körper vor Anspannung. Früher kam jetzt deine Hand, deine Finger haben meine umschlossen und du hast jeden Knöchel einzeln geküsst.
Ich bin wieder losgefahren, hab den Funkturm umrundet und mich dabei gefragt, ob du dieselben roten Lichter siehst wie ich oder ob wir in so unterschiedlichen Welten leben, dass es jetzt andere für dich geworden sind.

Durch alle Alleen hab ich es nie geschafft, das wären zu viele gewesen. Auf der Masurenallee ist zu viel los, auch nachts, aber in der Thüringerallee treibt sich keiner um die Zeit rum. Das hat sich nie geändert. In die letzte Linde links habe ich die Anfangsbuchstaben unserer Namen geschnitzt. Du hast mich als Umweltsünderin tituliert. Aber das war eindeutig das Harmloseste, was du mir in zwölf Jahren an den Kopf geworfen hast. Mich hat es nicht gestört. Und dir hat der Gedanke immer gefallen, einen bleibenden Eindruck auf diesem Planeten zu hinterlassen.

Herzlichen Glückwunsch, Beatzarre.

Wenn ich V und M lang genug angestarrt habe, ohne sie nachzuzeichnen mit den Fingerkuppen, und ein letztes Mal einsteige in den Wagen mit dem leeren Beifahrersitz, sind die Gefühle endlich weg.
Ich wusste, du bist nicht der Richtige. Von Beginn an. Du warst eine Erfahrung, das hab ich auch gewusst. Und am Ende hatte ich recht mit beidem. Wehgetan hat nur, dass du nicht die Erfahrung warst, die ich mir ausgemalt hatte.

Heute bist du kein Teil mehr von mir, aber es hat uns Jahre gekostet, oder nicht? Ich kann mich freuen für dich, wenn du mir keinen einzigen Song mehr widmest. Ich hab längst beschlossen, dass ich mich dann freuen werde. Alles hat sich geändert, aber nichts und niemand ist annähernd vergleichbar mit dir. Nicht auf lange Sicht. Auch er ist nicht du. Aber du bist ebenso wenig der, den ich immer in dir sehen wollte ... Und so hab ich ihn dir vorgezogen. Ohne zu wissen, ob das richtig war. Das glaube ich einfach nur. Dazu hab ich allen Anlass. Zwölf gute Gründe.


Nichts wichtigesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt