3. Türchen // Verkürzter Adventskalender

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Vorletzter Oneshot im Dezember für anne_luisa ... Ich hoffe, du kommst nachträglich schonmal in Weihnachtsstimmung für 2019.

"Du siehst aus wie ein Heiliger, Milan", lachte Coco, als sie ihren 2m-großen Ex-Freund vor der leuchtenden Spitze ihrer geschmückten Nordmann-Tanne aufragen sah. Ein heller Schein wand sich ringförmig um seinen Kopf. Seine Haarfarbe, die sonst der Rinde der alten Eiche im hinteren Teil des Gartens zum Verwechseln ähnlich sah, bildete einen harschen Kontrast zum warmen, hellen Licht des elektrischen Sterns.
Aleks, Cocos Mutter, machte ein Foto mit ihrer professionellen Kamera von dem hochgewachsenen Jungen, der wegen des Kommentars bezüglich seiner frommen Anmutung spöttisch lächelte. "Es gibt nichts, was ich weniger bin, als ein Heiliger", antwortete er.
Sie unterhielten sich auf Englisch. Milan lernte zwar Deutsch, seine Vorlesungen im kunstwissenschaftlichen Studium beschränkten sich jedoch aufs Englische. Durch die zwei Jahre, die er zuvor in London gelebt hatte, ging ihm die Weltsprache weit weniger schwer von den Lippen. Er sprach Englisch fast auf dem Niveau seiner Muttersprache, dem Tschechischen.
"Stimmt, nachdem wir inzwischen wissen, dass mein Kind der Teufel in Person ist", grinste Luk verschmitzt und Ada lachte auf. "Tja Papa, ich bin eben Satans Brut." Er mutete heute eher fraulich an. Coco, seine Schwester, hatte ein lindgrünes Kleid aussortiert, in dem er hinreißend aussah. "Diese Dokumentation über gender fluid people ist ein Verbrechen", schlug Milan einen ernsten Ton an. Ada trat an ihn heran, stellte sich auf Zehenspitzen und hauchte seinem Freund einen Kuss auf die Wange. "Nimm es mit Humor", riet er ihm. "Was anderes bleibt uns doch allen nicht übrig."
"Amen", nickte Coco zu den weisen Worten ihres jüngeren Bruders. Der weihnachtliche Hoodie aus dem Merchandise-Bestand der Band ihres Vaters stand ihr ausgezeichnet.
Aleks überprüfte die Fotos, die sie geschossen hatte, bevor sie sich im Schneidersitz neben den Weihnachtsbaum setzte. Jetzt fischte ihre Tochter umständlich eine Polaroid-Kamera vom chaotischen Esstisch und schoss ein Foto von ihr.
"Hey!", ertönte Protest, der jedoch nicht lange währte. Ihr Mann gesellte sich zu Aleks und schnitt alberne Grimassen für die entstehenden Bilder. Er flüsterte ihr etwas Unanständiges ins Ohr und sie lachte.
"Danke, Papa!", grinste Coco fröhlich. Ihre Mutter hatte ihr schon den ganzen Abend lang ein Foto von sich versprochen, sich dann aber doch immer drumherum gedrückt, weil sie seit ein paar Jahren Fotos, auf denen sie zu sehen war, mit Argwohn betrachtete. Man sah ihr inzwischen ihr Alter an und obwohl sie wunderschön alterte, störte es Aleks, wenn sie die Lachfältchen um ihre Augen und ihren Mund entdeckte. "Es war mir eine Freude." Luk hatte die Aufgabe seiner Frau ein gutes Gefühl zu vermitteln. Die erfüllte er meisterlich an diesem Weihnachtsabend, den sie zu fünft verbrachten.
Sie waren satt, hatten sich die Bäuche mit der imposanten Gans vollgeschlagen, die die Eltern zum Abendessen kredenzt hatten. Alle Zeichen deuteten auf die Bescherung als nächsten Tagesordnungspunkt hin, weshalb Ada prompt das Glöckchen läutete. "Wir machen es wie letztes Mal, oder? Jeder nimmt sich ein Geschenk und überreicht es gegebenenfalls demjenigen, dem es zusteht", fasste Coco zusammen.
Luk nickte. "Aleks, beginnst du?"
"Aha, Alter vor Schönheit?", spielte sie die Beleidigte, nahm sich aber ein rundes Päckchen, das in goldenes Papier gewickelt war. "Milan", las sie den Namen auf dem Schildchen vor.
Die Augen des Beschenkten wurden groß, er nahm das kleine, mysteriöse Present in die Hand und bestaunte es. "Pack es aus", kuschelte Ada sich enger an ihn. Milan lockerte die Schleife aus Stoff und holte eine Schneekugel hervor. Es war ein besonders unikates Exemplar und nirgendwo käuflich zu erwerben. Ein Auschnitt der prager Altstadt thronte inmitten des gerundeten Glases.
Aleks war die erste, die ihre Stimme wiederfand. "Oh, Ada, du bist ein Genie", murmelte sie, stand - gebannt auf die Schneekugel blickend - auf und betrachtete sie von allen Seiten.
"Die hast du gebaut?", fragte Luk seinen Sohn und folgte seiner Frau. Auch Coco war inzwischen ganz nah an den Rest der Meute herangerückt.
Ada antwortete nicht, sondern hockte bloß kurzerhand über die Sofalehne, um das Licht zu löschen. In den Straßen und Gassen der Miniatur-Altstadt glühte es. Winzige, winzige Leuchtdioden warfen ein warmes Licht auf die Szenerie. Es sah exakt aus wie in Prag bei Nacht, Milans Heimatstadt. "Der letzte Mensch, den ich traf, der so talentiert war wie du war deine Mutter", strich Luk Ada übers Haar. "Gefällt sie dir?", fragte der wiederum lächelnd an seinen Freund gewandt.
Milan war sprachlos. Er drehte sich zu Ada und küsste ihn in Ermangelung passender Worte. Da er das erste Geschenk erhalten hatte, war er am Zug das zweite zu überreichen.
"Mitsiko", reichte er Coco das Paket, das größer als alle anderen war.
"Oh mein Gott!", kreischte sie, als sie das Fender-Logo auf dem Gitarrenkoffer erkannte. "Ihr seid die besten Eltern der Welt!", sprang sie auf Luk und Aleks zu und umarmte sie stürmisch.
"Und du bist die beste Tochter der Welt", nuschelte ihr Vater in ihren Haaransatz, während ihre Mutter sie auf die Stirn küsste.
Aleks verschenkte Kunst an alle. Originale. Eine gerahmte Aquarell-Zeichnung an Milan, auf der er mit Ada zu sehen war, wie sie sich Arm in Arm anlächelten. Ein eingefangener Moment, der Aleks aus dem gemeinsamen Prag-Urlaub in Erinnerung geblieben war. Luk bekam eine Leinwand mittlerer Größe, ein Ölgemälde seiner Kinder auf dem Steg hinter dem Haus, als sie neun und sieben gewesen waren. Coco nahm ein älteres Bild in Empfang, das ihre Mutter ihr nie hatte aushändigen wollen. Es zeigte Luk, wie er Gitarre spielte und Aleks, wie sie sang, in einer verrauchten Bar in Amsterdam, einige Monate vor der Planung von Cocos Existenz. Ada betrachte eine nicht kolorierte Zeichnung im DIN A2 Format, auf der nur er selbst zu sehen war. Seine Mutter hatte ein Zitat darunter gesetzt: Werde, der du bist. Im dazugehörigen Kärtchen stand, er solle daran weiterarbeiten und ihr das Endergebnis eines Tages präsentieren.
"Ich weiß, ihr wolltet keine Geschenke, aber ich möchte euch diese Briefe geben", stand Milan auf und zog ein verstecktes Bündel hinter der geschmückten Tanne hervor. "Ich bin jedem von euch dankbar und ich musste es einfach irgendwie ausdrücken."
Coco strich über das teure Büttenpapier und musterte Milan, der kaum genug zum Leben hatte. Seine Familie war sehr arm. Einen Großteil dessen, was er sich in seinem Nebenjob in einer Bar in Berlin Mitte verdiente, schickte er seiner Familie in Tschechien. Seine Mutter hatte die Münder seiner zwei Schwestern und seines Bruders zu stopfen.
"Frohe Weihnachten", wünschte Milan fast akzentfrei auf Deutsch.
"Frohe Weihnachten!", schallte es im Chor zurück.

Nichts wichtigesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt