Kapitel 12

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Ich lege gerade den Löffel zur Seite, mit dem ich bis eben die wunderbare Nachspeise gelöffelt habe, da beugt sich die Prinzessin zu mir herüber. Sie scheint etwas zu bedrücken.

„Würdet Ihr mit mir nachher noch einen kleinen Spaziergang im Garten unternehmen?", erkundigt sie sich schüchtern.

„Gerne, wenn Ihr das wünscht", antworte ich.

Zu meiner Überraschung steht Everia auf, informiert ihren Vater, dass wir beide in den Garten gehen, und nimmt mich bei der Hand. Ein wenig von ihrer Eile überrumpelt, stehe auch ich auf.

„Du wartest hier auf mich?", frage ich Jelena.

„Natürlich!", grinst sie mich an.

Sie hat offenbar schon verstanden, dass die Prinzessin etwas zu besprechen hat. Da ich beim Essen keine Königin gesehen habe, nehme ich an, dass sie keine Mutter mehr hat. Allerdings wollte ich nicht so indiskret sein und fragen.

Sie zieht mich durch die Gänge und lässt dabei meine Hand keinen Moment los. Es kommt mir so vor, als ob sie Angst hätte, ich könnte ihr nicht folgen. Am Ende eines längeren Ganges öffnet sie eine Tür und wir treten hinaus in einen wunderschönen Garten. Er ist bunt und wirkt auf Anhieb sehr gepflegt. Die Prinzessin nimmt Kurs auf einen der vielen Kieswege und erst hier lässt sie nach etwa 100 Metern meine Hand los.

„Was bedrückt Euch?", frage ich.

Ich will schnell zum Punkt kommen. Ich kenne die Prinzessin noch nicht und weiß nicht, wie lange sie brauchen würde, um das Thema anzusprechen. Ich bin auch etwas irritiert von ihrer plötzlichen Vertrautheit. Während der Besprechung war sie mir gegenüber noch recht abweisend gewesen. Erst während des Essens hat sie sich allmählich gelockert.

„Ihr könnt gerne du zu mir sagen. Ich bin Everia", bietet sie an.

„Dann sagst du aber auch Aurora zu mir. Gleiches Recht für alle", lächle ich sie an.

Sie nickt dankbar, sagt aber einige Zeit lang nichts. Mir kommt es so vor, als suche sie nach dem richtigen Anfang. Dann fasst sie sich offenbar doch ein Herz.

„Du hast sicher bemerkt, dass es bei uns keine Königin gibt, nicht mehr."

Sie wird bei diesen Worten etwas wehmütig und auch ich muss schlucken. Mir ist sofort klar, dass dies für sie ein heikles Thema wird.

„Es ist mir aufgefallen. Ich wollte nur nicht nachfragen."

„Meine Mutter ist an einer schweren Krankheit gestorben, da war ich sechs Jahre alt."

„Oh, das tut mir leid", sage ich ehrlich.

„Das muss es nicht. Sie hatte ein gutes Leben und einen Mann, der sie sehr geliebt hat."

„Aber du vermisst sie" mutmaße ich.

„Jeden Tag. Ich kann mich noch so gut an sie erinnern. Sie war eine sehr liebevolle Frau. Ich kann mich auch noch an die vielen Momente erinnern, in denen ich mich an sie kuscheln konnte. Immer, wenn ich traurig war, wenn ich mir weh getan hatte oder wenn ich einfach jemand gebraucht habe, zum Anlehnen, dann war sie da. Sie hatte als Königin viele Aufgaben, aber für mich hatte sie immer Zeit. Sie hat sie sich genommen."

„Das klingt schön. Meine Adoptivmutter war da weniger liebevoll. Ich könnte mich nicht erinnern, dass wir länger gekuschelt hätten. Eine flüchtige Umarmung war das höchste der Gefühle."

„Hat sie dich nicht geliebt?"

„Ich glaube nicht, dass es ein Problem mangelnder Liebe war. Ich bin eher davon überzeugt, sie und mein Adoptivvater gehören einfach nicht der Art Menschen an, die Gefühle zeigen können. Sie sind auch zueinander nicht liebevoll oder zeigen es zumindest nicht."

Legenda Major - Aurorae MundiWhere stories live. Discover now