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Ich wusste nicht, wann meine Tränen versiegt waren, oder wann ich eingeschlafen war. Doch am nächsten Morgen frühstückte ich alleine. Kyran war, soweit ich das von den Bediensteten mitbekommen hatte, in Meetings oder arbeitete sonst an irgendwas und ich sollte heute Nachmittag meine erste Unterrichtslektion haben. Dass ich im Bereich Benehmen schon als kleines Kind unterrichtet wurde, konnte ja keiner wissen, also würde ich mich dumm stellen müssen.
Da ich jedoch bis zum Nachmittag noch etwas Zeit hatte, wollte ich das Schloss erkunden.

Auf leisen Sohlen schlich ich mich durch das Schloss und fand tatsächlich die Küche. Sie war gross und modern eingerichtet, mit einem grossen Kühlschrank, prima für einen allfälligen Mitternachtssnack.
Als Nächstes stolperte ich in ein Wohnzimmer, natürlich alles in blau gehalten. Dennoch war es geräumig und die Fenster zeigten alle in Richtung Wald, der in einem wunderschönen dunkelgrün wuchs.
Im Wohnzimmer war auch eine Wanduhr und ich liess meinen Blick über die vielen kleinen Einkerbungen gleiten, bis meine Augen beim Zifferblatt ankamen. 11:20 Uhr, soweit ich das verstanden hatte, würde das Mittagessen um 12 Uhr Punkt gehalten werden, ich hatte dementsprechend also noch eine gute halbe Stunde, ehe ich mich zum Esssaal begeben müsste.

Ich liess meinen Blick weiter schweifen, sah mir die Räume nebenan genauer an und darunter fand ich tatsächlich eine Bibliothek. Meine Neugierde war geweckt und so beschloss ich kurzerhand, mir die reiche Büchersammlung anzusehen.
Kriegsstrategie.
Saphirna Geschichte.
Legenden und Mystische Gestalten der blauen Insel.
Geografie und Aufbau Saphirnas.
Manches interessanter als anderes. Dennoch wollte ich mir so viel Wissen über Saphirna aneignen wie nur möglich. Ich wollte diese Insel und ihre Geheimnisse besser verstehen, damit ich meine nächsten Schritte entsprechend planen konnte. Fürs erste war sich einleben und abwarten die Ansage, ausserdem musste ich aufpassen mich wie ein Mensch zu verhalten.

«Was machst du denn hier?», erklang die Stimme Kyrans hinter mir und ich zuckte zusammen.

«Ich hab dich gar nicht kommen gehört», änderte ich das Thema, denn das hatte ich tatsächlich nicht.

«Das ist jetzt nebensächlich. Warum bist du hier? Was liest du dir so durch?», er blickte auf das Regal vor uns und sah sich die Reihe im Bücherregal an, bei der ich gerade meine Hand gehabt hatte.

«Wenn du Fragen zu Saphirna hast, dann kannst du mich fragen, schliesslich musste ich das alles seit ich klein war lernen.»

Damit zog er mich aus der Bibliothek raus, «Es gibt Mittagessen, vielleicht können wir am Nachmittag etwas zusammen machen?», war das ein Annäherungsversuch?

Ich schüttelte den Kopf, «Unterricht. Benehmen», ich lächle ihn an und kam ihm mit meinem Gesicht ganz nah, «Sorry Prinz Charming–», ich kam seinem Gesicht noch nähe und sein Blick wechselte fast schon etwas verwirrt von meinen Augen zu meinen Lippen und wieder zurück, «–nicht jeder hat Zeit für dich, nur weil du es vorschlägst.»

An dem Ausdruck in seinen Augen konnte ich ablesen, dass es ihn einiges an Konzentration verlangte, meine eben gesagten Worte zu verstehen.

Grinsend sah ich für den Bruchteil einer Sekunde auf seine Lippen hinab, bevor ich mich in Windeseile von ihm entfernte und einen Schritt zurückging, «Ich geh jetzt essen», ich riss mich aus seinem Griff, der immer noch um mein Handgelenk lag, jedoch um einiges lockerer.

Ich verschwand aus dem Raum und erst als ich im Gang war, hörte ich ihn hinter mir herrufen, «He! Was erlaubst du dir eigentlich?»

«Was meinst du?», fragte ich unschuldig, «Soweit ich das verstanden habe sind wir Mates, was ist an meiner Geste eben komisch gewesen?», er holte zu mir auf und lief nun neben mir, sichtlich aufgebracht.

«Spiel nicht mit mir, ich mag dein Mate sein, aber lass mich in Ruhe», damit rauschte er an mir vorbei und ins Esszimmer. Komischer Vogel.

❥︎ ❥︎ ❥︎

Kyrans Grossvater Erik räusperte sich, «Ich denke, dass alle sich hierfür interessieren, also sage ich es jetzt. Sheila hat den Brief erhalten, in dem wir sie gebeten haben unverzüglich zum Hof zu kommen und wird sie in drei Tagen ankommen.»

Ich bemühte mich, äusserlich Ruhe zu bewahren.
Eifersucht machte sich dennoch in den Tiefen meiner Gefühle breit.
Mein Lykaner wollte so schnell wie möglich zu dieser Sheila und sie vernichten. Doch ich konnte das nicht machen, zumal ich keine Ahnung hatte, wie sie aussah.
In mir wütete dennoch ein Sturm und so entschuldigte ich mich kurzerhand, rannte aus dem Saal und liess alle verdutzt sitzen. Vermutlich dachten sie, dass mir das neue Thema am Tisch zu viel gewesen war. Dabei hatte ich nicht einmal annähernd eine Ahnung, worum es gegangen war.

Beinahe brach ich die Tür, als sie nicht sofort aufging und rannte dann, als ich im Zimmer war, sofort ins Bad. Mein Blick blieb an meinem Spiegelbild hängen, meine blauen Augen hatten einen goldenen Stich, was bedeutete, dass ich mich jederzeit verwandeln könnte. Meine gewachsenen Eckzähne, die spitz hervorschauten, zerstörten selbst die kleinste Illusion, dass ich ein Mensch war.

Ich griff zum Wasserhahn der Badewanne und drehte ihn auf kalter Stufe volle Kanne auf. Das Rauschen des Wassers beruhigte ein wenig, jedoch nicht viel.
Sobald die Wanne bis zur Mitte voll war, streifte ich mir eilig meine Kleider vom Leib und schmiss sie in irgendeine Ecke, ehe ich mich geradezu in das eiskalte Wasser stürzte.
Es beruhigte meinen Lykaner, stoppte den Verwandlungsprozess und brachte mir wieder einen kühlen Kopf. Wort wörtlich.

«Andrea?», klopfte Calandra an der Tür und ich riss die Augen auf.
Dass jemand mir folgen könnte, hatte ich nicht in Betracht gezogen, doch dafür war es jetzt zu spät.

«Ja?», fragte ich und hielt mir, als die Türe vorsichtig aufging, die Hand vor den Mund.

«Ich wollte nur sichergehen, dass es dir soweit gut geht. Du bist so schnell aus dem Raum geflüchtet, ich glaube kaum, dass es etwas mit dem Edelsteinhandel zwischen dem Festland und Saphirna zu tun hat», mütterlich sieht sie mich an.

Meine Hand war weiterhin an meinen Mund gehalten und ich sah runter, um die goldenen Sprenkel in meinen Augen zu verbergen.
Die Kälte des Wassers wurde mir bewusster und ich zog meine Beine eng an meinen Körper. Dann dockte ich meine Nase zwischen meinen Knien an und so verbargen meine Oberschenkel meinen Mund und damit meine Eckzähne mit. Meine Augen hielt ich auf meine Zehen gerichtet.

«Es ist nur...ich habe bis vor kurzem ein ganz normales Leben geführt und auf einmal soll ich die Mate eines Lykaners sein», murmelte ich leise, doch ich wusste, dass sie mich verstanden hatte.

«Im Buch lieben die Mates einander, aber so einfach ist das im echten Leben nicht. Ich vermisse meine Freunde und Familie», meine Sätze verloren jeglichen Zusammenhang, doch Calandra nickte verständnisvoll.

«Du könntest bestimmt eine Freundin hier her bringen und ich könnte sie offiziell als Kammerzofe einstellen, dann hättest du eine Freundin und Kyran könnte nichts machen», sie lächelte und am liebsten wäre ich ihr um den Hals gefallen.

«So, ich lass dich jetzt in Ruhe, aber denk daran, dass du bald Unterricht in Benehmen hast», damit stand sie auf, verliess das Bad und schloss die Tür hinter sich.

Reagan -Little Ruler-Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt