Kapitel 11

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Ich beobachte das Geschehen vor mir. Mehrere hundert Jugendliche zwischen zehn und achtzehn drängen sich dicht aneinander, schreien und kreischen hysterisch und richten Kameras und Handys in die Mitte der Menge. Von meinem Standpunkt aus kann ich nicht erkennen, was da ist, aber es scheint sehr interessant zu sein. Irgendjemand versucht durch ein Megafon etwas Ordnung zu schaffen, aber keiner achtet darauf.

Ich stehe schon seit einigen Minuten hier- vielleicht auch schon eine halbe Stunde- und betrachte amüsiert wie hauptsächlich Mädchen plötzlich aggressiv werden, nur um ein Foto zu bekommen- mit wem auch immer. Einige kommen schreiend aus der Menge heraus gestürmt und halten stolz ihr Handy in die Höhe, um das prachtvolle Foto darauf ihren Eltern zu zeigen, die ein gespielt begeistertes Lächeln aufsetzten und ein 'Super Schatz' murmeln. Irgendwie tun sie mir Leid. Aber ich hab ja Holly, die wohl irgendwo da in der Menge steht und zusammen mit all den anderen kreischt und fast in Ohnmacht fällt.

Ich nehme einen weiteren Schluck von meiner Cola und lache leise in mich hinein, als ein junger Vater seine acht jährige Tochter von der Menschmasse wegzerrt und auf sie einredet, dass das alles nicht für sie wäre. Das Mädchen guckt immer wieder sehnsüchtig über die Schulter und schaut ihren Vater aus traurigen Augen an, bis dieser sie schließlich loslässt und sie triumphierend im Gedränge verschwindet. Noch einen Moment lang suche ich sie in der Menge, dann richte ich den Blick auf ein Mädchen, das auf mich zugestürmt kommt.

"Schön das du dich auch mal blicken lässt", begrüße ich meine kleine Schwester. Ihr Blick rutscht von meine Augen zu meinen Haaren und wieder zurück.

"Du warst beim Frisör?", stellt sie fest, eindeutig skeptisch.

"Sieht so aus", gebe ich zurück und schiebe mir eine weitere Strähne hinters Ohr. Man! Da werd ich mich echt noch dran gewöhnen müssen.

"Sieht... langweilig aus", meint sie und lässt sich auf dem Platz mir gegenüber fallen.

"Danke", brumme ich und füge im Stillen ein 'Das sollte es auch sein' hinzu. Ich weiß nicht wann ich das letzte Mal eine 'normale' Haarfarbe gehabt habe. Vielleicht mit dreizehn? Ich habe dieses Straßenköter-Blond immer gehasst. Naja, weit bin ich da jetzt aber auch nicht von entfernt.

"Wieso?", hakt Holly nach und berührt vorsichtig eine aschblonde Strähne, die sich an meine Wange schmiegt.

"Sollte mal was neues werden", sage ich ohne jegliche Begeisterung in der Stimme.

"Neu und langweilig?" Sie zieht eine Augenbraue hoch.

"Ja, neu und langweilig", stimme ich ihr zu.

"Nicht schlecht." War das ein Kompliment? Habe ich da gerade ein Kompliment aus dem Mund meiner kleinen Schwester gehört?

"Bist du fertig?", frage ich nach einigen Minuten schweigen. Sie nickt. Dann sehe ich auf die Uhr. "Oh super, dann wirst du wohl Bahn fahren müssen." Sie reist geschockt die Augen auf.

"Was?!" Ich unterdrücke ein Kichern bei ihrem Gesichtsausdruck.

"Ich bin in na halben Stunde hier verabredet", erkläre ich so teilnahmslos wie möglich.

"Ist das dein Ernst?", ruft sie und springt auf.

"Och komm schon Holly. Das sind maximal zehn Minuten. Das wirst du wohl überleben." Versuche ich sie gerade zu beruhigen?

"Ja, zehn scheiß Minuten in einer stinkenden S-Bahn!" Sie zieht einen Schmollmund und ich weiche ihrem Hundeblick aus.

"Nein, das funkt nicht", knurre ich und blicke auf ein Handy um der Versuchung zu wiederstehen sie ein weiteres Mal anzusehen.

"Du bist scheiße!", faucht sie und ich grinse.

"Ich weiß." Wütend springt sie auf und rennt in Richtung Bahnhof ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen, geschweige denn sich zu verabschieden. Für einen Augenblick tut sie mir Leid, aber der Gedanke verschwindet schnell wieder, als ich eine Nachricht von Sam erhalte.

Wo bist du gerade?

Am Dom. Sitzt im Café und trink Cola. Tippe ich und blicke dann auf. Wie durch ein Wunder ist der Platz wohl innerhalb der letzten fünf Minuten, in denen ich nicht aufgepasst hatte, geräumt worden, denn jetzt stehen nur noch ein paar Jugendliche in kleinen Gruppen rum, aber es sind eindeutig viel wenige, als noch vor ein paar Minuten. Es sieht fast so aus, als wäre das Ganze nie passiert. Ein paar Zettel wehen vom Wind getragen über das Kopfsteinpflaster und Plattgetretene Fotos kleben auf den Steinen. Ein Stück von mir entfernt erkenne ich eine zertretene Sonnenbrille und einen zerquetschten Hamburger, eine zerlaufene Eiswaffel, den Inhalt eines Milchshakebechers und irgendwas das aussieht wie eine Handyhülle. Auf der anderen Seite des Platzes wird die Tür eines schwarzen Bullis aufgeschoben und eine Gruppe Jungen steigt aus. Einer knallt die Tür laut zu und dann kommen alle vier auf mich zu. Was für eine Überraschung.

"Liv?" Ju ist der Erste, der mich verwundert mustert. "Warst du nicht mal rot?" Er grinst und das Grinsen springt auch auf die Gesichter der anderen drei. Da es noch nicht Abend ist scheint selbst Luke gut gelaunt- aber wer weiß wie lange das anhält. Sam übergeht die kleine Veränderung meiner Haare erstmal und zieht mich in eine übertriebene Umarmung.

"Steht dir", stellt Tobi fest, der mich nur mit einem schiefen Lächeln begrüßt.

"Danke." Die vier wirken alle etwas geplättet, als hätte sie stundenlang gearbeitet.

"Was habt ihr vor?", frage ich und sehe in die Runde, die jetzt an meinem Tisch sitzt- der nebenbei gesagt viel zu klein ist.

"Keine Ahnung" Sam zuckt die Schultern und nimmt seinen Blick nicht von mir ab.

"Bitte irgendwas mit sitzen oder so", fleht Ju und klammert sich demonstrativ an seine Stuhllehne.

"Hab ihr von diesem neuen Science- Fiction- Film gehört?", schlägt Tobi vor.

"Kino? Bei dem Wetter?" Ju sieht zum Himmel, wo sich gerade einige Wolken zusammenziehen. "Hört sich nicht schlecht an." Die anderen nicken zustimmend. Sam wirft mir einen fragenden Blick zu- als ob er das nicht schon die ganze Zeit tun würde, aber jetzt scheint er einen andere Frage zu stellen.

"Gern", sage ich schnell und bin glücklich nichts aufregendes machen zu müssen. Obwohl ich heute noch nichts gemacht hab, bin ich irgendwie ziemlich platt. Aber Kino geht immer.

Nachdem ich gezahlt habe machen wir uns auf dem Weg zum Kino und obwohl ich gedacht hatte, das die Stimmung echt angeschlagen wäre, wird der Abend dann doch ganz witzig.

Two confused heartsNơi câu chuyện tồn tại. Hãy khám phá bây giờ