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POV: Abby (Abigail)

Mein Atem ging schwer. Ich musste mich beruhigen, sonst würde ich eine Panikattacke bekommen. Leicht schwankend setzte ich mich an den Tisch und holte ein Blatt Papier und einen Stift heraus. Nichts entspannte mich mehr, als meine Gefühle in Bilder zu fassen. Das war das einzige, was mir diese scheiß Psychologin Gutes getan hatte. Diese Frau hatte mich auf die Idee gebracht, das, was so unaussprechlich war, in Bilder niederzubringen. Sie brachte mich dazu zu zeichnen. Am Anfang hatte ich es für eine blöde Idee gehalten, aber mit der Zeit half es mir zumindest für einen kurzen Moment. Damals hatte ich versucht, meine Gedanken in Schmerz, Drogen und Selbstverletzung zu ertränken. Doch all diese Mittel gab es hier nicht. Ich war eingesperrt in einer Umgebung, die mir keine Erlösung brachte.

Da war wieder die Frage: ging es mir besser? Die Antwort war klar: Nein. Es ging mir absolut nicht besser. Ich lebte in einer Welt voller Lügen, alles war fake, meine Fröhlichkeit, mein Lächeln, einfach alles.

Meine Gedanken schwenkten zurück zu Ray. Sie hatte es anscheinend geschafft, sich in einer Psychiatrie weh zu tun. Du hast dich auch schon hier drin verletzt. Du tust das oft. Du hast Klingen. Es weiß nur niemand davon. Ich verdrängte die Gedanken mit gemischten Gefühlen. Vielleicht hatte Ray es sogar geschafft, sich um-... Stopp! Sie ist nicht tot!

Oder?

So viel Blut... Ich machte mir Sorgen um jemanden, den ich kaum kannte, um jemanden, dessen Gründe ich nicht kannte. Wenn ich ehrlich war, wusste ich nichts über sie, außer ihren Namen und ihr Alter. Trotzdem mochte ich sie. Sie war wie ich. Nur das ich mich mit meinem Schicksal abgegeben hatte. Sie kämpfte weiter ihren aussichtslosen Kampf.

POV: Ray (Rachel)

Ich schlug langsam blinzelnd meine Augen auf. Herr Rot saß an einem Computer am anderen Ende des Raumes. Wie lange hatte ich geschlafen? Ich versuchte mich zu bewegen, aber es schmerzte immer noch. Also ließ ich es bleiben. Herr Rot drehte sich zu mir ,,Wie ich sehe, bist du wach!" Rief er erfreut. Stark kombiniert, ich verdrehte die Augen. ,,Wie fühlst du dich?", fragte er. Beschissen dachte ich. ,,Besser", sagte ich, aber um seine Frage zu beantworten. ,,Gut zu hören, dann möchte ich jetzt, dass du mir ein paar Fragen beantwortest!" Er kam sofort auf den Punkt. Ich stöhnte genervt. Fragen um Fragen. Immer wieder derselbe Scheiß und immer neue Lügen, die aus meinem Mund kommen würden. ,,Also, wie ist es zu deinem Unfall gekommen?" wieder betonte er das Wort Unfall nochmals extra stark. ,,Ich habe... ihnen doch schon...alles erzählt" meine Stimme klang brüchig. Es tat weh. Alles tat weh. Fuck! Warum war ich so dumm gewesen? Hätte ich etwas anderes vers-...

,,Rachel? Hörst du mir überhaupt zu?" Unterbrach Herr Rot meine Gedanken. Nein, ich hatte nicht zugehört, anscheinend hatte er mir noch eine Frage gestellt. ,,Also noch einmal, du bist unterernährt, daran werden wir arbeiten. Hast du schon mal Drogen genommen? Oder Alkohol getrunken?" ,,Nein" antwortete ich, Schulter zuckend. Wobei... Ich hatte einmal gekifft, mit 14 und rauchen zählte wahrscheinlich auch dazu. ,,Ich hole jetzt eine Kollegin, die weitere Untersuchungen vornehmen wird." Er notierte sich etwas, legte das Klemmbrett auf den kleinen Nachtisch und ging aus dem Raum. Warum eine Kollegin? Ich war leicht verwirrt und wartete.

Die Tür wurde schwungvoll aufgerissen und eine Frau mit braunen, schulterlangem Haar kam herein. ,,Hallo, ich glaube wir hatten noch nicht das Vergnügen, ich bin Lisa" sie lächelte freundlich. Die Frau war die einzige die sich mit ihrem Vornamen vorstellte. Sie sah jung aus und irgendwie sympathischer als die anderen hier. ,,Also, dann lass uns mal anfangen, ziehe bitte dein Pulli und deine Hose aus" sagte sie und ich starrte sie perplex an. ,,Na los worauf wartest du?" Sie lachte. Ich zog beides aus und stand nun in Unterwäsche vor ihr. Ich wurde nervös unter ihren Blicken und wusste nun auch warum sie das wollte.

,,Habe ich mir gedacht", sie seufzte. Ich schaute an mir herunter. Sofort wendete ich meinen Blick. Ich hasste diese Narben. Sie waren überall auf meinen Oberschenkel, auf meinen Armen und an meinem Bauchbereich. Große und Kleine. Tiefe und weniger Tiefe. Kreuz und quer. Ich hatte nach der Zeit keinen Platz mehr auf meinen Armen, weswegen ich anfing mich auch an meinen Bauchbereich und meine Oberschenkel zu ritzen ,,Warum verletzt du dich selbst?", fragte Lisa nun. Ich überlegte. Es gab so viele Gründe.

Schmerzen, die mich für einen Moment vergessen ließen, die alles für einen kurzen Moment verdrängten, die mich wenigstens etwas spüren ließen. Ich hatte sie genossen.

Kontrolle, ich hatte mein Leben nie unter Kontrolle, jedes Mal hat mich alles runtergezogen, mit der Zeit war einfach alles außer Kontrolle geraten. Die Schmerzen hatte ich kontrollieren können, bis ich süchtig wurde.

Bestrafung, jedes Mal, wenn ich einen Fehler machte oder eine schlechte Note hatte Ritze mir die Klinge diese in die Haut, damit ich nicht vergaß wie dumm und wertlos ich war.

Selbsthass, ich war hässlich, dumm und zu nichts zu gebrauchen. Ich machte alles falsch. Mich brauchte niemand und niemand interessierte sich dafür, was ich tat.

Der Wunsch zu Sterben, ich konnte mir jederzeit die Adern aufschlitzen und so allem entkommen.

Vielleicht war es auch ein Stück weit, Hoffnung, dass alles wieder gut werden würde, dass ich gerettet werden würde. Diese Hoffnung ist schon lange gestorben. An ihrer Stelle ist nun die gleichgültige Leere, die meinen Körper füllt.

Ich holte tief Luft, bevor ich antwortete: ,,Alles einfach alles. " Ich erwartete, dass sie fragte, was ich mit alles meinte, aber das tat sie nicht, sie sah mich wissend an. ,,Seit wann verletzt du dich schon selbst?" Ich überlegte kurz und schätzte dann grob: ,,Seit 3 Jahren ungefähr" Andere in meinem Alter waren glücklich und unbeschwert gewesen, für mich ging es an diesem Zeitpunkt schon bergab. Ich war nie mehr glücklich geworden. Ich wusste nicht einmal mehr, wie sich das anfühlte, das Glücklichsein. Lisa notierte sich etwas. Dann stellte sie noch ein paar Fragen, bis sie schließlich auf das Thema Essen kam.

,,Mir wurde erzählt, dass du untergewichtig bist, außerdem kann ich gerade deine Rippen bewundern", stellte sie mit einem sarkastischen Unterton fest. Ich sah wieder an mir herunter. Mir war es eigentlich egal, ob ich dünn oder dick war. Es würde nichts an mir ändern, ich blieb hässlich. Eigentlich war mir mein Gewicht also vollkommen gleichgültig.

Oder? Belog ich mich gerade selbst? Es konnte mir doch egal sein.

Ich würde sowieso bald sterben.

,,Sag mal Rachel, bist du magersüchtig?", fragte sie nun. ,,Sie sind hier die Psychologin oder ich?" gab ich patzig zurück. ,,Mhhh, ich würde das gerne noch untersuchen'' Mir doch egal. ,,Wann hast du das letzte Mal richtig etwas gegessen?" Ich musste nachdenken. Wie lange? Es war mir egal, wann ich aß und wann nicht, meistens hatte ich keinen Hunger. ,,Seit ein paar Tagen" antworte ich schließlich. ,,Ein paar Tage sind mir zu ungenau. Dein Versuch ist jetzt 2 Wochen her" ,,2 Wochen?!" Das konnte nicht sein!

,,Ja, 2 Wochen, du bist 4 Tage hier, die restliche Zeit lagst du im Koma." berichtete Lisa und ich war schockiert. Wie die Zeit verging. ,,Also seit wann jetzt?" ,,Ich schätze dann 1 Woche." sagte ich Schulter zuckend. Sie sah mich besorgt und wissend an. ,,Anorexie also... " sagte sie wie zu sich selbst. ,,Ich bin nicht essgestört!" Protestierte ich. ,,Nun..." Sie sah nachdenklich aus. ,,Lass uns einen Test machen, ok? Vielleicht haben wir dann eine Diagnose" Super noch einen von diesen doofen Tests.

Lisa ging plötzlich ohne ein Wort aus dem Raum. Ich war verwirrt. Da kam sie auch schon mit einem Tablett, auf dem ein Teller stand herein. ,,Hier, iss das auf" sagte sie trocken. ,,Alles?!" Ich starrte auf den Teller, den sie mir hinhielt. Alles in mir sträubte sich etwas zu Essen. Lisa sah mich wissend an. Sie hatte sich anscheinend ihr eigenes Bild dazu gemacht. ,,Nun dann erzähl mal, was dich am Essen stört", sie setzte sich neben mich auf das Bett. Sie war anders als die anderen Psychologen und Pfleger hier. Sie wollte mir anscheinend wirklich helfen und sie hatte andere Methoden. Trotzdem wollte ich nicht darüber reden, vor allem, weil ich selbst nicht genau wusste, warum ich ein Problem mit dem Essen hatte. ,,Rachel oder Ray? Ich habe von Abby gehört, dass du lieber Ray genannt wirst", sie lächelte. Ich sah sie erstaunt an. ,,Ray" sagte ich schließlich. ,,Nun dann Ray, bitte rede mit mir. Eine Essstörung ist gefährlich, und vor allem qualvoll und wenn du nicht isst, werden die Pfleger dich zwingen müssen. " Ich atmete tief ein und aus.

Dann versuchte ich, dieses Chaos in meinem Kopf in Worte zu fassen.

SuizidWhere stories live. Discover now