24. Lebendige Vergangenheit

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Als wir das Krankenhaus verlassen, fahren wir zu der Adresse, die Ilma uns beschrieben hatte. Da sie nicht umgezogen ist, konnte Kuno sich sogar noch ein bisschen daran erinnern, wo sie liegt, auch, wenn er seit Kindheitstagen nicht mehr hier war. 

„Deine Oma scheint mir sehr nett zu sein." Kunos Blick geht ernst auf die Straße. „So war sie schon immer."

Ihre Wohnung liegt in einem der oberen Stockwerke am Rande der Stadt, welcher von kleinen Wäldchen und landwirtschaftlichen Äckern umgeben ist.

 Als wir davor halten, sehe ich, wie angespannt Kuno ist. Sein Blick huscht unruhig umher, als würde er ständig erwarten, dass ihm plötzlich vertraute Gestalten über den Weg laufen. Seine Atmung geht erhöht und seine Hände stecken tief in den Hosentaschen.

Vorsichtig hake ich mich bei ihm ein, woraufhin er die eine Hand sofort aus der Tasche löst und mich noch näher zu sich heranzieht.

„Kannst du dich noch an all das hier erinnern?"

Kuno presst seine Lippen aufeinander. „Teilweise ja. Lass uns einfach beeilen." Er zieht mich hinter sich her und läuft schnurgerade auf die Eingangstür zu, um sie aufzuschließen, ohne sich dabei erneut ein einziges Mal umzusehen. 

Er weiß sogar noch wo der Schlüssel versteckt wurde, oder hat Ilma es ihm vorhin gesagt? 

Der Hausflur ist alt und die Treppe knarzt, als wir die vielen Stufen nach oben laufen. Kunos Oma muss eigentlich ziemlich fit sein, wenn sie diese immer hoch und runterläuft.

Als wir in ihre Wohnung treten bleibt Kuno für einen Moment einfach an der Türschwelle haften, ohne sich zu bewegen. Eine ganze Weile vergeht, in welcher er einfach so, wie versteinert dasteht.

Sein Blick nimmt alles in sich auf. Jedes noch so kleinste Detail. Ein großer, edel gewebter Teppich liegt auf dem Boden. Er muss schon sehr alt sein, vor allem, weil Kuno ihn anstarrt, als stecke er voller kostbarer Momente. Genau wie das Sofa, oder der große Tisch im Wohnbereich.

Nach einigen Minuten des Innehaltens betritt er tatsächlich den Raum. Langsam, als beschreite er ein Museum aus alten Erinnerungen.

Seine Hände schweben über den Dingen, ohne sie zu berühren, als hätte er Angst, sie würden sonst zu lebendig werden.

Apropos lebendig, wo ist eigentlich Fridolin? 

Ich verbinde mich mit der Umgebung und erhasche ein kleines Fellknäuel in einem der Räume auf einem Bett liegen. Ich vermute mal das Schlafzimmer. Er vermisst Ilma bestimmt, wenn er Orte aufsucht, die besonders mit ihrem Geruch behaftet sind.

An seinen aufgestellten Ohren und Körperhaltung kann ich fühlen, dass er uns bereits registriert hat und sich anscheinend überlegt, ob er sich jetzt verstecken, oder neugierig hervorkommen soll.

„Fridolin ist im Schlafzimmer", murmele ich. Nicht sicher, ob Kuno mich überhaupt gehört hat.

Er ist vor einem Regal stehen geblieben und starrt wie in Trance auf ein dortiges Bild, welches schwarz umrahmt auf Höhe seiner Schultern steht. Neugierig spähe ich neben ihn vorbei.

Oh... 

Es trifft mich wie ein Schlag mitten ins Herz. Vier Augenpaare schauen mir entgegen. Da ist ein Mann. Groß und braunhaarig. Er hat dasselbe Grübchen, wie... Ich schlucke und merke, wie sich ein Kloß in meinen Hals frisst, als ich den kleinen Jungen sehe, welcher auf seinem Huckepack sitzt und sich mit seinen kleinen Händchen an seinen Haaren festkrallt. 

Er strahlt mit seinem sonnen-reifen Lächeln so eine Wärme aus, dass es einem sofort durch Herz und Magen fährt. 

Ich kann gar nicht anders, als ebenfalls meine Mundwinkel kurz leicht nach oben wandern zu lassen, ehe sie in die vorige Position zurückfallen. Seine Pausbacken werden untermalt von feinen, ziemlich verstrubbelten Kinderlocken, die seine leuchtenden, klugen Augen hervorheben. Das ist wohl... Ilan...

Tanz mit dem Morgentau - Das Geheimnis der Tränen ~ Band 3Où les histoires vivent. Découvrez maintenant