25.

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Annemarie

Harry, Niall und ich liefen bereits eine halbe Ewigkeit in die gleiche Richtung und ich hoffte, wir würden bald irgendwo ankommen. Mir fehlte etwas zu trinken und vor allem etwas zu essen. Das letzte, das ich aß, war das Brot von Harry und das ist schon zu lange her, um mich auch nur an den Geschmack daran erinnern zu können. Das wenige Essen schwächte mich enorm und scheinbar war ich nicht die Einzige, die darunter litt, denn auch Niall und Harry wurden träge.

Zwar sprachen sie wieder miteinander, ich wusste nicht, was letzte Nacht noch passierte, nachdem Niall wieder zurückgekommen war, aber es erleichterte mich, dass die Spannung weniger angespannt war.

Doch jetzt war da etwas anderes zwischen Harry und mir, was ich nicht beschreiben konnte. Seitdem ich letzte Nacht so offen mit ihm gesprochen hatte, fühlte ich mich wohler in seiner Gegenwart. Ich hatte ihm gesagt, was ich dachte und er hat nicht negativ darauf reagiert, er hätte mich genauso gut auslachen können. Das, was nun zwischen Harry und mir war, fühlte sich verbundener an. Irgendwie anders. Als hätten wir einen unausgesprochenen Pakt geschlossen, von dem niemand wusste.

„Meine Fresse, endlich", stöhnte Niall erschöpft, als an dem Ende eines Feldweges ankamen.

Harry und ich hoben die Köpfe und sahen sofort, was Niall so erleichterte. Ein Dorf. Zivilisation. Endlich.

„Ich brauche unbedingt etwas zu trinken." Niall legte sich die Hand auf den Bauch, der auf Anhieb knurrte. „Und etwas zu essen. Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen."

Harry schien ebenfalls mächtig froh zu sein, dass wir endlich wenigstens irgendwo ankamen, deswegen atmete er erst mal tief durch. Er lief die ganze Zeit immer ein Stück hinter mir, egal wie langsam ich wurde. Ich bildete mir ein, dass er es tat, um Acht auf mich zu geben. Ich mochte die Vorstellung, deswegen beließ ich es dabei.

„Wir sollten lieber hoffen, dass unser Platoon ebenfalls hier ist", sagte er. „Alles andere stelle ich mir weniger praktisch vor."

Ich mir ebenfalls. Während ich letzte Nacht noch dachte, ein deutscher Trupp wäre alles, was ich benötigte, um aus dieser Hölle zu entfliehen, gab es für mich gerade keine schlimmere Vorstellung. Ich wollte endlich wieder Annel sehen und sie in meine Arme schließen. Würden Deutsche mich tatsächlich mitnehmen, dann wäre alles verloren.

Wir liefen eine steinige Straße entlang, direkt ins Herz des Dorfes.

Es war totenstill, man hörte keine Menschenseele, kein Tier, nicht mal einen Vogel zwitschern. Einzig und allein unsere Schritte waren zu hören und die Steinchen, die unter unseren Füßen knirschten.

Mein Herz pochte wild gegen meine Brust, während ich mich vorsichtig umsah. All die Häuser sahen zerstört aus. Die Scheiben der Läden sind zersprungen, Autos sind noch am Rauchen und ein Aschefilm war auf dem Boden zu erkennen.

Ich sah eine rote Flagge an einer Hauswand hängen. Sie wurde unsauber mit zwei Messern befestigt. Mitten im Stoff war ein großes Loch eingebrannt, man konnte genau erkennen, dass es eine deutsche Reichsflagge war. Jetzt ist sie nur noch ein roter Fetzen, der symbolisierte, wie abscheulich die Menschen, die dieses Dorf so zerstörten, dieses Land fanden.

Wir liefen weiter und ich sah zu Harry, der alles – genauso wie Niall – beobachtete. In ihren Gesichtern war keine Regung zu erkennen, das schockierte mich, gleichzeitig wünschte ich, bei mir wäre es genauso. Sie hatten schon schrecklichere Dinge gesehen, ich mittlerweile auch, aber ich war nicht bereit dazu, mir das Gefühlschaos, das in mir tobte, nicht zu zeigen.

„Diese Stille", sprach Niall leise und erst jetzt bemerkte ich, dass er bereits eine Pistole in seiner Hand hielt, „sie beunruhigt mich."

Auch Harry zog seinen Revolver hervor und nun begann ich innerlich Panik zu bekommen. War Stille nicht etwas Gutes? Wäre es nicht schlimmer, wenn lauter Leute unterwegs wären, die keine Freunde von amerikanischen Soldaten waren?

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt