139.

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Anne

Lisbeth lag links von mir, George rechts von mir, während wir gemeinsam schweigend an die Decke von Georges Kinderzimmer starrten. Von unten hörte man immer wieder Schreie, Warnungen, Beleidigungen, laute Schritte.

Ich wollte weghören, aber es ging nicht. Während des ganzen Streits, der dort unten im Wohnzimmer tobte, fühlte ich eine tiefe Schuld in mir.

Und es wurde nicht angenehmer, als Lisbeth leise flüsterte: „George, auch wenn du manchmal echt doof bist ... bin ich trotzdem froh, dich zu haben."

Für einen kurzen Augenblick hörte ich auf, mich auf den Streit unten zu konzentrieren, sondern auf die zwei Geschwister neben mir.

„Wieso sagst du das?", flüsterte George zurück, der genauso verängstigt von dem Geschrei unten war.

Lisbeth rutschte näher zu mir heran, als man plötzlich Johanna laut schreien hörte. „Weil sie sich so oft streiten und anschreien. Und ich trotzdem noch dich habe. Irgendwie habe ich dann weniger Angst."

Es erwärmte mir genauso sehr das Herz, wie es mir wehtat.

„Lisbeth", gab George leise zurück. „Ich bin vielleicht nicht so groß wie Harry, aber ich werde immer bei dir bleiben, wenn solche Dinge passieren."

„Okay." Lisbeth schaute über mich hinweg zu ihrem Bruder. „Aber du bist noch immer doof."

Gemeinsam lachten wir für zwei Sekunden, aber verstummten sofort, als die nächsten heftigen Schreie ertönten. Lisbeth zuckte auf und nahm meine Hand in ihre.

Ich schaute auf unsere ineinandergeschlungenen Finger. Und fühlte Reue. Tiefe Reue.

„Das hier ist alles meine Schuld", sagte ich ehrlich. „Ihr müsstet nicht hier liegen und euch fürchten, wenn ich nicht hier wäre."

Beide schauten mich an, ich konnte ihre traurigen Blicke nicht erwidern. Es war nicht nur die Tatsache, dass die zwei Angst haben mussten, es war die Tatsache, dass dort draußen ein Mädchen war, dass alleine Angst haben musste. Annel und ich hatten schon immer Probleme mit unserem Vater und nun ließ ich sie alleine, wenn sie ängstlich im Bett lag.

Wie konnte ich ihr das nur antun?

„Wir lagen schon oft so hier", meinte Lisbeth.

„Da macht dieses Mal keinen Unterschied mehr", fügte George hinzu.

„Na toll", seufzte ich frustriert und spürte, wie ein Kloß in meinem Hals wuchs. „Hasst ihr mich, wenn ich euch sage, dass ich hier liege und meine Schwester vermisse?"

Lisbeth drückte meine Hand enger. „Ich glaube, ich würde George auch vermissen, wenn er ganz weit weg wäre."

„Ich würde Lisbeth zwar weniger vermissen als sie mich", meinte George, „aber ich hasse dich nicht dafür. Ich kann dich verstehen."

„Deine Familie ist am anderen Ende der Welt", sprach Lisbeth weiter. „Es wäre komisch, würdest du sie nicht vermissen."

Ich wollte nicht weinen, aber die plötzliche Sehnsucht trieb mich beinahe dazu. „In Momenten, in denen ich am traurigsten bin, vermisse ich sie am meisten."

„Weil man sie dann am meisten benötigt", sagte George ruhig.

Und dann hörte man so laut den Knall der Haustür, dass das ganze Haus zu wackeln schien. Es war totenstill. Ich fragte mich, wer nun gegangen war. Ich hoffte, es war Willis.

Ich wischte mir eine kleine Träne aus dem Augenwinkel und erhob mich. „Ich werde nachsehen, ob es ihnen gut geht", sagte ich den zwei lieben Menschen in diesem Bett, worauf diese nur verständnisvoll nickten.

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt