108.

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Annemarie Dorner

Ich presste die Lippen aufeinander, um mir ein Lachen zu unterdrücken. Annel war die Einzige, die Samuel genauso wenig ausstehen konnte wie ich. Schon damals als er immer davon berichtete, wie er zwei Wochen lang in Polen stationiert war und dort „eisenhart" für unser Vaterland gekämpft hatte, verachtete sie ihn. Alles, was er erzählte, hinterfragte sie. Sie hatte sich zu einem wirklich selbstbewussten jungen Fräulein entwickelt. Ich beneidete sie sehr darum.

Noch bevor unser Vater Annel für ihren frechen Spruch maßregeln konnte, erhob ich mich von meinem Stuhl und hielt meiner kleinen Schwester, die mittlerweile gar nicht mehr so klein war, mein Geschenk entgegen. „Für unseren kleinen Abgänger."

Sie strahlte über das ganze Gesicht, also tat ich es auch. Es war unglaublich wie erwachsen sie heute aussah. Ihre blonden Haare hatte sie ordentlich geflochten, wodurch sie über ihre linke Schulter lagen. Ihr Gesicht war so unglaublich hübsch. Auch wenn sie immer eine Narbe an ihrer Schläfe trug.

„Ich weiß genau, was es ist", sagte sie und riss das Papier auf. Und schon hielt sie glücklich das grüne Kleid in der Hand.

„Das ist aber ein hübsches Kleid", sagte Samuel, der sich zu uns gesellte. „Vielleicht kannst du es direkt tragen, wenn wir zum Höhepunkt dieses Nachmittags kommen wollen."

Annels Grinsen verschwand sofort. „Ich dachte, der Höhepunkt dieses Nachmittags sei mein Abschluss."

„Tja, kleine Anneliese", erwiderte er jedoch und schickte sie nach oben zum Umziehen. „Wir werden sehen. Wo ist denn Elisa?"

„Ich bin hier!", trällerte diese und kam mit einem riesigen Vanillekuchen in den Händen hinein. „Kann es direkt losgehen?"

„Wir sollten auf Hubert warten", meinte mein Vater, der plötzlich lächelte. „Er darf das nicht verpassen."

„Was nicht verpassen?", fragte ich nach und wurde sekündlich skeptischer.

„Setz dich doch", sagte Samuel nur darauf und drückte mich zurück auf meinen Platz. „Lass es einfach auf dich zukommen, ja, Hübsche?"

Tante Elisa grinste über beide Ohren, als sie aufgeregt neben dem Tisch stand und auch so langsam Hubert zu uns geschlendert kam. Heute trug er keinen Bademantel, sondern einen sauberen Hosenanzug.

„Anneliese, etwas schneller, ich möchte nicht mehr warten!", rief Samuel freudig durch das Treppenhaus und ging wild von links nach rechts. Er richtete sein Hemd, seine Haare, alles, was sich richten ließ.

Und ich verspürte eine aufkommende Übelkeit, als ich die vielen überglücklichen Gesichter meiner Familie sah. Er wollte mir einen Antrag machen.

Schließlich kam Annel in ihrem neuen Kleid die Treppen heruntergelaufen und – völlig egal wie hübsch sie darin aussah – spürte ich bereits die Galle in mir hochkommen. Sie musste es mir angesehen haben, denn sie musterte mich kritisch.

„Nun gut, da jetzt alle hier sind", begann Samuel zu sprechen und ich wollte wegrennen. Er holte tief Luft und griff in seine Hosentasche, um ein kleines Kästchen hervorzuholen. „Annemarie, lass mich dir etwas sagen."

Und daraufhin folgten Worte, die mir den Atem raubten. Allerdings nicht im positiven Sinne, sondern eher diese Art, in der ich dachte, sie würde mir gleich einen Schlussstrich setzen. Er sprach von einer möglichen glänzenden Zukunft, mir und ihm, wie wir gemeinsam mit unseren vier Kindern eine Weltreise in seinem Cabriolet machen und dabei Kaffee trinken. Oder wie wir die schönsten Kinder aller Zeiten zeugen konnten und auf ewig glücklich wären, würde ich ihn doch nur heiraten.

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