121.

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Anne,

ich habe verlernt, deinen Namen auszusprechen. Es ist, als lebe ich seitdem schweigsam. Weil alles, worüber ich sprechen möchte, du bist.

Aber, und das ist der Grund, warum ich betrunken, mitten in der Nacht, in der Küche meiner Mutter sitze und diesen Brief schreibe – dich werde ich niemals vergessen können.

Sag, wie sollte ich?

Du hast mich mit dem Gefühl deiner Lippen auf meiner Haut zurückgelassen. Oder dem Klang deines Lachens, das noch heute in meinen Ohren schallt, wenn es ruhig wird.

Ich hasse die Stille, seitdem du weg bist. Da ist dieses Ticken der Uhr. Am lautesten ist es, wenn es dunkel wird. Aber das ist mein Problem, nicht deins.

Doch wenn ich versuche diesem Ticken zu entfliehen, dann schließe ich die Augen. Weißt du was passiert, wenn ich das tue? Dann sehe ich dich.

Nicht nur dich, sondern uns. Wie ich dich berühren durfte. Wie wir eine Nacht in einem unzumutbaren Zimmer verbrachten und was wir hätten sein können, wäre dieses Leben weniger ungerecht.

Du nimmst meinen Kopf manchmal tagelang ein und das gnadenlos. Du lässt mich nicht schlafen, du machst mich betrunken und bringst mich zum Schreien.

Ich dachte, umso mehr Zeit nach dem Krieg vergeht, umso besser finde ich mich in diesem Leben ein, aber ich lag falsch. Schlaf ist nicht mehr nur Schlaf, es ist eine Flucht aus diesem Alltag, der ohne dich stattfindet.

Vielleicht hältst du mich für verrückt, derart über dich zu schreiben, obwohl schon so viele Jahre vergangen sind, aber ich finde keine andere Antwort, außer dich, auf die Frage, wie ich jemals über all dies hinwegkommen soll.

Das Ticken der Uhr ist gerade unerträglich laut, es bereitet mir Kopfschmerzen. Es fällt mir schwer zu schreiben.

Ich will dir heute Nacht so viele Dinge sagen und dich um Verzeihung bitten.

Ich will dir sagen, dass ich vermisse, wer wir niemals waren. Wir waren niemals ein Mann und eine Frau, die sich trafen, ineinander verliebten, küssten und gemeinsam gingen. Wir waren niemals ein normaler Mann und eine normale Frau, die miteinander schliefen, wann sie es wollten und niemals waren wir die, die darüber sprechen durften, wie aufregend unser Tanz in Deutschland war. Das vermisse ich.

Manchmal fürchte ich mich davor, nie wieder eine Frau zu treffen, die meine Brust so göttlich schmerzen lässt wie du es bis zum heutigen Tag tust. Ja, verdammt, sag mir, wie ich jemals wieder normalen Liebeskummer verspüren soll, wenn ich weiß, es gibt dich?

Schon in der Nacht unseres ersten Kusses, hast du dich für immer in meine Seele geschnitzt, in meine Haut, in mein Herz und in mein Leben. Denn keine Lippen könnten jemals so sein wie deine. Was ein frustrierender Gedanke, wenn man in meiner Situation steckt.

Als ich es dir noch hätte sagen können, wusste ich es nicht, aber; du bist alles, wonach ich jemals gesucht habe und noch viel mehr. Nicht nur heute, wenn das Ticken zu laut und die Nacht zu dunkel ist, sondern schon, als ich dich das erste Mal sah. Ich hatte ja keine Ahnung, wie abhängig ich nach deiner Nähe werden konnte.

Ich sollte dir dafür danken, dass du mich dazu gebracht hast, etwas zu fühlen nachdem ich eine sehr lange Zeit nichts gefühlt habe. Du meintest mal, ich sei nicht krank, aber ich bin aufrichtig – ich war es längst bevor du in mein Leben tratst. Ich bin es noch heute. Aber damals mit dir, da fühlte ich mich gesund. So ... normal. So normal und so unbeschreiblich verliebt.

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt