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Halb vier morgens und ich hau einfach mal ein Kapitel raus. So was von Ferien bei mir im Zimmer

Annemarie

Die Minuten vergingen wie Stunden und die Stunden fühlten sich an wie die Ewigkeit.

Das Grauenvollste in meiner derzeitigen Situation war nicht die Kälte, dieses schreckliche Hunger -  und Durstgefühl oder die Helligkeit, die sich langsam vom Himmel verabschiedete, nein, es war die Tatsache, dass ich zu viel Zeit hatte, um nachzudenken. Das erste Mal seit Tagen war ich komplett alleine, ich dachte, ich bräuchte es, aber es war schlimmer als der Schmerz, den ich mittlerweile in meinem versteiften Rücken spürte.

Denn ich vermisste alles.

Ich vermisste meinen Vater, ich vermisste Annels Lachen, ich vermisste meinen Musiklehrer, ich vermisste mein Zuhause und ich vermisste meine Mutter. Doch all diese Dinge, all das waren Dinge, die kaputt gemacht wurden.

Mein Vater schickte seine Töchter durch die Hölle, Annel hatte keinen Grund mehr zum Lachen, ich würde nie wieder meinen Musiklehrer treffen, nie wieder mein Zuhause betreten und nie wieder, ja, nie wieder, nie wieder in meinem ganzen Leben meine Mutter in den Arm nehmen können.

Ich weinte in den letzten Stunden viel und lange. Mein Kopf hing nur schlaff nach unten, meine Augen waren geschlossen, meine Tränen waren auf meinen Wangen getrocknet, hinterließen ein widerliches Gefühl.

Mit gebundenen Händen, mitten in einer kalten Nacht in einem Dorf, das von Engländern zerstört wurde - So endete einer der vielen Tage, die ich mit dem amerikanischen Soldatentrupp verbrachte. Gedemütigt und verletzt. Genauso fühlte ich mich stundenlang und es hörte nicht auf.

Über Harry wollte ich nicht einmal nachdenken, das würde meine Situation nur noch unerträglicher  machen. In manchen Momenten hasste ich ihn, dann versuchte ich, ihn zu verstehen, doch dann hasste ich ihn wieder. Aber so schnell wie ich begann ihn zu hassen, wurde mir klar, dass es mir zu viel Kraft raubte. Kraft, die ich schon seit Tagen nicht mehr besaß.

Wie konnte ich denken, er würde mir helfen?

Doch diese Gedanken waren unnütz, jetzt waren sie einfach nur noch unwichtig. Ich war ein ausgelaugtes Wrack, war vollkommen leer, wie ich hier so saß und den Stoff meines Kleides in meinem Schoß betrachtete. Ich wollte, dass diese Nacht umging, mehr nicht.

Allerdings war sie noch lange nicht um und es wurde schlimmer, als von vorne eine Stimme ertönte und mir schleifende Schritte näher kamen.

„Ah", sagte die Stimme und ich sah nicht einmal auf, denn ich wusste sofort, dass es Walt war, der mich besuchte, „die kleine Deutsche lässt den Kopf hängen."

Ich schloss die Augen, als er mir immer näher kam. Er war ein Sadist, genauso wie Sergeant Pattons.

Ich hob auch nicht den Kopf, als er sich genau neben meine Beine kniete. „Was ist los? Willst du nicht mit mir reden, Kleines?"

Zu schwach war ich, um überhaupt reagieren zu können, hätte es aber auch nicht getan, wenn ich es gewollt hätte.

„Hey!" Mit festem Griff riss Walt mein Kinn in die Höhe und krallte seine Finger in meine Wangen, sodass es wehtat. Seine Augen waren so dunkel, ich konnte schwören, er wäre der Teufel. Seine kurzen braunen Haare waren durcheinander und ich roch eine Alkoholfahne, als er mir mit böser Miene zusprach: „Du hast mich anzusehen, wenn ich mit dir rede, verstanden? Was glaubst du, wer ich bin, dass du mich ignorieren kannst?"

Ich antwortete nicht darauf, sah ihm einfach nur schwach in die Augen, die mich streng musterten.

Kurz herrschte Stille, dann wanderte Walts Blick von meinem Gesicht meinen Körper hinunter und ich fühlte mich direkt unwohl. Ich hasste es, wenn er mich so ansah. Es widerte mich an.

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt