75.

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Annemarie

Wir schafften es nicht vor Sonnenuntergang in Halle anzukommen. Die Stimmung war ... bedrückend.

Der Bombenangriff meiner Landesleute war der erste Angriff, den die neuen Soldaten erlebten. Man merkte jedem an, wie schrecklich sie es fanden. Ein paar kamen ums Leben, aber damit war zu rechnen.

Manche weinten. Manche sprachen kein Wort mehr, während wir liefen. Ich konnte die Trauer der Soldaten verstehen, aber sie mussten sich daran gewöhnen. Das mussten wir alle.

Liam war einer der wenigen, die versuchten die Männer aufzuheitern, auch wenn er selbst schwer litt. Er vermisste Niall sehr. Man merkte es ihm täglich mehr an.

Als wir Pause machten, zeigte er Charles, einem anderen Sanitäter das Bild seiner Tochter. „Das ist Grace", erzählte er dazu. „Meine Tochter. Ich denke, es ist wichtig etwas zu haben, woran man festhalten kann. Und ich halte an ihr fest."

Charles seufzte, als er das Bild betrachtete. „Ich bin gerade mal zwei Wochen hier und halte an gar nichts mehr fest. In Amerika habe ich nur meinen Vater, sonst nichts. Und die Wahrscheinlichkeit, dass wir jeden Moment wieder überfallen werden könnten, ist doch ziemlich hoch."

„Weißt du, Charles", sagte Liam dann und erzählte ihm genau das, was er mir erzählte, als ich an einem Pfahl festgebunden war.

Ich hörte Liam gerne zu. Er war solch ein trauriger Mann, voller Emotionen und doch so unglaublich stark. Manchmal erwischte ich ihn dabei, wie er für sich alleine weinte, aber er versuchte es stets zu verstecken.

„Oh, Anne", sagte er dann jedes Mal. „Du kommst wohl immer zum falschen Zeitpunkt."

Aber ich war mir sicher, es war genau der richtige Zeitpunkt, denn ich unterhielt mich lange und ausgiebig mit ihm. Er erzählte mir, wie lange er Niall kannte und wie sehr er Zayn vermisste. Manchmal, meinte er, da hat er Angst nach Hause zu kommen. Denn er wusste, er müsste ein Leben ohne Niall und ohne Zayn leben. Er wüsste nicht einmal, ob seine Verlobte ihn noch liebte und ob seine Tochter Grace ihn vielleicht niemals als Vater akzeptieren würde. Er hatte so viele Ängste, aber trotzdem glaubte er daran, dass alles gut werden würde.

„Wenn es gut werden soll, dann wird es so sein", sagte er am Ende immer. „Wie geht es dir?"

Somit wechselte er das Thema und wir sprachen über mich. Ich erzählte ihm davon, wie sehr mir meine Mutter fehlte, was ich für Gewissenskonflikte über meinen Vater hatte und dass auch ich Angst hatte. Ich hatte Angst, in Halle anzukommen und Sergeant Pattons erklären zu müssen, dass ich keine Ahnung hatte, wo mein Vater wirklich war.

Ich hatte Angst, Annel würde sterben.

Ich hatte Angst, Harry würde sterben.

„Du bist mittlerweile so stark geworden", sagte Liam. „Ich sehe dir an, dass du es schaffen wirst. Und wenn du es schaffst, werden es auch die schaffen, die du liebst."

„Aber ich habe nicht die Macht darüber, zu entscheiden, wer es schafft und wer nicht."

Daraufhin hatte Liam keine Antwort.


Im Laufe des Tages bekam ich einen Disput zwischen den Sergeants mit. Sie sprachen über meinen Vater.

„Was macht es für einen Sinn, ihn mitzunehmen?", schrie Sergeant Joseph. „Er wird niemandem etwas nutzen!"

„Kennen Sie ihn, Sergeant?", fragte Sergeant Pattons. „Sagen Sie, haben Sie überhaupt verstanden, was Ziel dieser Mission war?"

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt