59.

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Harry

„Sie schlafen", flüsterte meine Mutter, als ich bereits mit meiner gepackten Tasche im Hausflur stand, um zu gehen. Ihr Gesicht war verweint und ihr dunkles Haar schon seit zwei Tagen nicht mehr gekämmt. Sie schlief sehr schlecht, seitdem ich ihr sagte, ich würde meinen Posten im Krieg einnehmen. „Sie werden am Boden zerstört sein, wenn du morgen plötzlich nicht mehr da bist."

Es war halb elf abends, draußen bereits stockdunkel und hier drinnen so leise wie noch nie zuvor. Ich hörte die große Uhr meines Vaters aus dem kleinen Wohnzimmer ticken, es roch noch nach frisch gebackenem Kuchen. Morgen würde Lisbeth ihren sechsten Geburtstag feiern. Und ich würde ihn nicht mehr miterleben.

Ich sah meiner Mutter in die hellgrünen Augen, die umrandet von einer adrigen Röte waren. Seit Tagen hatte waren sie geschwollen vom Weinen.

Aber ich durfte keine Zeit verlieren. Schon morgen früh würden die Schiffe in Richtung Europa steuern und mit dem Bus, der alle Soldaten des Dorfes mitnehmen würde, konnte ich nicht fahren. Lisbeth und George würden wach sein und ich wollte ihnen nicht den Anblick bieten müssen, mich wegfahren zu sehen.

Ich legte meinen Rucksack auf den Boden und flüsterte: „Ich werde mich kurz von ihnen verabschieden und dann ... Mom, bitte weine nicht."

Weil meine Mutter wieder ihr Gesicht verzog und sich von mir wegdrehen musste, schmerzte mein Herz. Ich vergaß niemals wie oft ich ihr Schluchzen und Wimmern hörte. Es brannte sich in meine Gedanken.

Es fiel mir schwer, aber ich musste mich von ihr abwenden. Ich hatte wirklich nicht viel Zeit. In dieser Nacht musste ich einen Fußweg von sechs Stunden auf mich nehmen, damit Lisbeth und George mich morgen früh nicht verabschieden mussten.

Deswegen öffnete ich so leise wie ich konnte, die Kinderzimmertür meiner Geschwister. In ihrem Zimmer hörte man noch die Spieluhr, die Mom jeden Abend für sie aufzog. Unser Vater hat sie ihr geschenkt, bevor er in den Krieg ging und nie wieder zurückkam.

Im Zimmer war es dunkel, bis auf ein kleines Licht, das neben der Tür brannte. Lisbeth fürchtete sich in der Dunkelheit.

Ab sofort müsste George nachsehen, ob Schattenmonster unter ihrem Bett waren und nicht mehr ich.

Ganz, ganz leise lehnte ich die Tür in den Rahmen und ging auf das zu kleine Bett für die beiden zu. Sie quetschten sich schon seit Jahren in dieses kleine Gestell, aber es machte ihnen nie etwas aus, weil sie wussten, dass Mom nicht viel Geld hatte.

Lisbeths samtig weiches Gesicht strahlte mir entgegen, als ich mich an die Bettkante setzte. George lag direkt hinter ihrem Rücken, seine Hand unter seiner Wange. Ich wünschte mir, ich hätte noch einmal ihre Augen sehen können, bevor ich gehen würde.

Während ich ihren fast überhörbaren Atemzügen lauschte, stellte ich mir vor, ich würde nie wieder zurückkommen. Ich fragte mich, ob es ein Fehler sei, sie zu verlassen. Und ob sie nicht sterben würden, wenn ich sie nicht beschützen konnte. Diese Familie, diese drei so schwachen Wesen waren meine Zuflucht und mein Zuhause.

Ich wollte nicht sterben. Ich wollte irgendwann wieder vor diesem Haus ankommen und ihnen beim Leben zusehen. Das war mein Plan.

Als ich mir Georges und Lisbeths Gesichter vorstellte, wie sie verwundert durch die Wohnung laufen und nach mir suchen, Mom ihnen beichten musste, ich sei für eine lange Zeit gegangen, musste ich den Atem anhalten, um nicht in ein jämmerliches Schluchzen zu verfallen.

Ich strich über Lisbeths weiche, warme Wange. „Passt gut auf unsere Mutter auf", sprach ich so ruhig wie ich konnte. „Ich weiß, dass ich mich auf euch verlassen kann. Und ... Und seid nicht zu lange traurig."

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt