73.

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Harry

Ich war immer ein ruhiger Mann. Ich kannte meine Stärken und meine Schwächen. Ich war aufrichtig und empathisch, nachsichtsvoll und friedlich. Harmonie stand bei mir an oberster Stelle. Ich tat niemandem weh, der mir nicht wehtat, und wusste, wie ich gefasst mit einer Situation umging. Disziplin und die Beherrschung nicht zu verlieren, das waren zwei schwerwiegende Synonyme für mich.

Aber dennoch musste ich begreifen, dass nichts davon noch von Bedeutung war, als ich mein Zelt betrat, versucht war, all diesen Eigenschaften gerecht zu werden, dass nichts davon mehr übrig war.

Denn trotzdem schleuderte ich meinen Stuhl aggressiv durch mein Zelt.

Mein Tisch gleich hinterher.

Ich schrie wie ein wildgewordenes Tier. Es war unmöglich, dass man mich nicht hörte. Auch wenn ich mich selbst kaum hörte. Das Piepen in meinen Ohren erhöhte den Druck in mir und mein Kopfschmerz begann von neuem.

Ich raufte mir das Haar, ich lief von links nach rechts. Meine Augen wollte ich kaum öffnen, denn dann würde ich nur erkennen, wo ich wirklich gelandet war. Zwischen Bomben und Maschinengewehren, irgendwo in einem Land voller Tot und Verderben. Hass und Menschen, die zu Menschen wurden, die sie eigentlich nie sein wollten.

Es war nicht einmal die Tatsache, dass Joseph mich mit einem bösartigen General verglich, nein, es war gerade alles. Annel und Walt. Niall und Zayn. Liam und Anne. Sergeant Pepper und all die anderen Freunde, denen ich beim Starben zusah. Keith, der heulend vor mir kniete, weil er Angst hatte, ich würde ihn entweder erschießen oder ihn die Klippe herunterstürzen.

Aber ich durfte nicht in solch einen Moment verfallen. Dessen war ich mir jedes Mal wieder bewusst, wenn ich an der Grenze meiner Nerven angelangt war. Es passierte nicht oft, aber es passierte. Und das war ungesund.

Ich trat gegen den Tisch, der nun umgeschmissen in der Gegend lag und atmete tief durch. Ich rieb mir über die Stirn, über die Schläfen, über alles, aber der Kopfschmerz wurde nur intensiver.

„Harry?"

Mich lies die sanfte Stimme aufschrecken, die vom Zelteingang kam. Ich musste ausgesehen haben wie ein Verrückter, als Anne mich mit ihren blauen Augen besorgt anstarrte.

„Anne", war alles, das ich schaffte zu sagen.

Sie ließ das Laken des Zeltes hinter sich zufallen und kam langsam auf mich zu. Ihr Kopf war geneigt, ihre Schritte viel zu distanziert. Natürlich bemerkte sie das umhergeschmissene Inventar, weswegen ich ihren Blick als verunsichert einstufte. Dennoch fragte sie mich ruhig: „Was ist passiert?"

Ich ließ meinen Kopf los und versuchte weiterhin mich zu entspannen. Es gelang mir nicht. Viel mehr plagte mich das Wissen, dass Annes kleine Schwester von Walt missbraucht wurde, weil wir sie alleine gelassen haben.

„Ich habe das eben mit Keith mitbekommen", sprach Anne weiter auf mich ein. „Möchtest du darüber sprechen?"

Ob ich darüber sprechen wollte? Ich wollte mich lauthals darüber auslassen, wie gottverdammt sehr ich so vieles hasste.

Sie kam mir immer näher, derweil ich noch immer angespannt auf der Stelle stand und sie nicht einmal ansehen konnte.

Sie würde mich so sehr hassen, wenn sie wüsste, was ich ihr verschwieg.

„Harry ..." Anne legte zaghaft ihre Hand um meinen Arm, wodurch ich sie anschauen musste. Sie erschien mir so bedächtig, dass ich sie nur mit Liam vergleichen konnte. Niemand sonst sah mich so in den letzten Jahren an. „Ich verurteile dich nicht für das, was du getan hast", sagte sie leise. „Ich möchte einfach nur wissen, was los ist."

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt