85.

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Harry

Es herrschte eisige Stille, als wir Niall beobachteten, wie er mit dem Blick auf den Boden gerichtet und humpelnd auf Keith zuging. Liam setzte sich bedacht neben mich und verfolgte jede Bewegung von Niall, als hätte er Angst, er würde jeden Moment auseinanderbrechen.

Keith blickte blinzelnd zu Niall heraus, als dieser schweigend vor ihm stehen blieb. Mein Freund schwankte mit seinem Körper von links nach rechts, es fiel ihm schwer zu stehen.

„Kann ich dir ...", will Keith sagen, doch Niall schnitt ihm das Wort ab, indem er sich den Flachmann aus Keiths Händen nahm.

„Nur das", säuselte Niall und setzte das Getränk an, in dem nur Schnaps war. Er trank es leer und schmiss den Flachmann vor Keiths Füße. „Nur das kann mir helfen, mein Freund."

Alle im Kreis sahen zu, wie Niall nun in die Richtung humpelte, wo noch ein freier Platz war. Sein Gesicht sah grässlich aus. Seine Augen waren leer und mir war bewusst, dass er schon im Zelt Alkohol getrunken haben muss.

Noch bevor Niall sich hinsetzte, blieb er stehen. „Nein", sagte er leise und schüttelte den Kopf. „Nein, ich nehme es zurück." Er drehte sich zu Keith. „Warum nenne ich dich meinen Freund? Nimm es mir nicht übel, war ein Anfängerfehler. Manchmal vergesse ich, dass um uns herum Bomben explodieren."

„Was ist mit ihm los?", fragte ich Liam leise.

Liam schürzte die Lippen, behielt seinen Blick stets auf Niall. „Ich weiß es nicht."

„Warum starrt ihr mich alle so an?", fragte Niall lallend in die Runde, weil ihn immer noch nur alle mit großen Augen anblickten. „Habe ich etwas im Gesicht?" Er tastete seine Stirn ab und seufzte gespielt. „Ach, hatte ich fast vergessen. Meine Fresse ist aufgehübscht worden. War wohl doch kein Traum."

Noch immer sagte niemand etwas. Ich bemerkte, dass Pattons und Joseph zu uns stießen, beide mit gekrauster Stirn.

Aber Niall interessierte sich scheinbar nicht für sie und wand sich an Anne. „Hey, Anne", sprach er sie an. „Was sagst du zu meinem Gesicht? Ist es schlimm?"

Sofort schüttelte sie den Kopf. „Nein, ist es nicht."

Da lachte Niall bitter auf. „Das hat der Rest der verschissenen Nazis auch behauptet, als sie es mir angetan haben. Ihr scheint sehr zu sympathisieren. Aber das wundert mich nicht. Ihr seid alle gleich."

Mein Herz begann zu rasen, als er Anne noch einen verächtlichen Blick zu warf. Aber er drehte ihr wieder den Rücken zu und wand sich diesmal an alle.

„Ich glaube", sagte er und stolperte ein wenig nach links, da er wirklich sehr betrunken schien. „Ich glaube, es wird Zeit, euch zu erzählen, was passiert ist. Findet ihr nicht auch? Hach, natürlich findet ihr das. Also hört genau zu und ich schwöre jedem, dass ich ihn erschieße, wenn er mich unterbricht."

Niall zog mit zittrigen Fingern eine Pistole aus seinem Hosenbund, worauf alle den Atem anhielten. Er drehte durch.

„Also", begann er tief ausatmend. „Ich ... Ich halte es kurz. Ihr habt mich alleine gelassen und dann habe ich so viele Nazi-Wichser erschossen, dass ich bei zwanzig aufgehört habe, zu zählen." Niall machte kleine Schritte durch die Runde, auch wenn er ab und zu vor Schmerz aufzischte. „Sie sind in mein Zimmer gestürmt und ich habe einfach draufgehalten." Er hielt eine imaginäre Sturmfeuerwaffe in die Luft und hielt sie auf Louis. „Und das eine halbe Minute lang. Schuss, Schuss, Schuss, Schuss. Der Stapel der Leichen an der Zimmertür war so hoch, es diente mir beinahe als Schutzmauer. Aber ... Es kam wie es kommen musste und sie ergriffen mich. Einer wollte mich erschießen, aber sie dachten sich ..." – Er drehte sich zu Louis – „Na, kleiner Mann, was dachten sie sich wohl, hm?"

My Own LiberatorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt