Sonnenaufgang

2.2K 145 5
                                    

Adrian

Ich steckte meinen Schlüssel in die Tür und drehte ihn. Ein leises Klicken machte mir deutlich, dass die Tür aufgeschlossen war. Unbemerkt warf ich einen Blick zu Claire, die benommen auf den Boden starrte. Ihre Augen hatten immernoch diesen leblosen Ausdruck, der mir ziemlich nah ging. Ich drückte die Tür auf und zog den Schlüssel aus dem Schloss.

„Komm", flüsterte ich, als sie keine Regung zeigte. Langsam hob sie ihren Blick vom Boden und schaute zu der geöffneten Tür. Mit schweren Schritten, als würden Tonnen auf ihren Schultern liegen, schritt sie in die Wohnung.

„Hast du Hunger oder Durst?", fragte ich, nachdem ich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, doch sie schüttelte nur den Kopf und blieb hilflos im Flur stehen.

Mittlerweile war es kurz nach zwei Uhr morgens und ich sah, dass sich dunkle Augenringe auf ihrem Gesicht abzeichneten. Ohne ein Wort ging ich an ihr vorbei in mein Schlafzimmer und schnappte mir das erst beste T-Shirt, das sauber war. Ich ging zu ihr zurück und drückte ihr das T-Shirt in die Hand. Zum ersten Mal, seit sie wach war, blickte sie auf und runzelte ihre Stirn, sodass sie nicht mehr so verloren aussah.

„Du kannst in meinem Bett schlafen", sagte ich mit einem Kopfnicken in Richtung meiner Zimmertür. Ich bemerkte, wie sie ihren Mund öffnete um mir zu widersprechen, doch ich winkte ab und schob sie in die Richtung des Zimmers.

„Da hinten ist das Bad, falls noch was sein sollte", erklärte ich mit einer lässigen Handbewegung und blieb erst etwas planlos vor ihr stehen.

„Also gute Nacht", flüsterte ich und machte ein paar unbeholfene Schritte rückwärts, wobei ihre Augen auf mir ruhten.

„Nacht", ertönte ihre zarte Stimme, als ich die Tür zuzog. Ich atmete entspannt aus und warf einen erneuten Blick auf die Uhr.

Es war noch früh, doch ich würde Claire nicht alleine lassen morgen früh, geschweige denn aus dem Bett schmeißen und sie in die Schule zerren. In aller Ruhe griff ich nach meiner Zigarettenschachtel, die sich in meiner Hosentasche verbarg und suchte in meiner Jackentasche nach einem Feuerzeug.

Mit langsamen Schritten, ging ich in das Wohnzimmer und öffnete das Dachfenster. Ich brauchte heute Morgen dringend frische Luft und Zeit zum Nachdenken. Der Geruch von Desinfektionsmitteln und das bedrückende Gefühl, das sich in mir ausbreitete, wenn ich Krankenhäuser betrat, waren noch nicht verschwunden. Mit Leichtigkeit kletterte ich auf das Dach und ließ mich nieder. Mein Blick glitt über die Dächer der Stadt. Ich mochte diese Aussicht nachts am liebsten, da kein Horizont zu erkennen war. Alles schien eins zu sein und ich hatte das Gefühl, ich könnte unendlich weit gucken. Ich steckte mir meine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.

Augenblicklich entspannte ich mich etwas und dachte daran, was das mit Claire war. Wir kannten uns nicht und doch hatte ich ihr einfach so geholfen und sogar angeboten bei mir zu wohnen. Natürlich hatte ich dadurch einen Vorteil, doch ich wusste auch, dass mir der Gedanke Claire um mich herum zu haben nicht missfiel.

Das gab ich allerdings nicht zu.

Ich würde auch den Jungs erzählen, dass ich nur nett sein wollte. Allerdings sagte mir mein inneres schon jetzt, dass sie sich nicht lange damit abspeisen lassen würden. Natürlich waren sie es nicht gewöhnt, dass ich so freundlich war und auch jetzt konnte ich mir diese Zuneigung, die ich für Claire empfand nicht richtig erklären. Doch ich konnte mir vorstellen, dass es daran lag, dass sie wie ich ein schlimmes Schicksal hatte. Und die Tatsache, dass ihr Leben schlimmer war, als meines, ließ mich irgendwie den Beschützer raushängen.

Zum einen weil ich diesmal nicht der Schwache war, sondern jemand anderes und zum anderen, weil ich sie teilweise verstand und sie mich wahrscheinlich auch. Und dieser Gedanke, dass erste Mal in meinem Leben richtig verstanden zu werden, tat verdammt gut.

Butterfly - Lerne FliegenWhere stories live. Discover now