Eine Frage der Zeit

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Blut.

So viel Blut. Ich drücke meine Hand auf Vincents Schusswunde und versuche die Blutung zu stoppen. Tränen verhindern mir die Sicht auf ihn und die Panik schnürt mir die Kehle zu. Um mich herum stehen Leute, einige haben ihr Handy herausgeholt und filmen die Situation. Doch denen schenke ich keine Beachtung, meine Aufmerksamkeit liegt einzig und allein auf Vincent. Dessen Gesicht immer blasser wird.

Tränen tropfen auf sein Shirt und hinterlassen dunkle Flecken. Ich höre die besorgten Stimmen der anderen, doch ich bin zu sehr damit beschäftigt genug Druck auf die Wunde auszuüben, als auf das Gerede der anderen zu hören. Noch immer höre ich den Schuss in meinen Ohren, den Knall als die Patrone den Lauf der Waffe verlässt und das dumpfe Geräusch, dass sie erzeugt hat, als sich die Spitze der neun Millimeter Patrone durch Vincents Körper gebohrt hat. Die Panik hat sich wie die Druckwelle einer Explosion durch den Flughafen gekämpft, hat Menschen zu Fall gebracht und denjenigen in die Flucht geschlagen, den wir eigentlich verhaften wollten.

„Bitte kämpfe", flüsterte ich, schniefe und versuche das klebrig, warme Blut zwischen meinen Fingern zu ignorieren. Schon einmal hielt ich das Leben eines Menschen in meinen Händen und ich werde es ein zweites Mal schaffen. Das sage ich mir immer wieder, wie ein Mantra, oder ein Gebet. Obwohl ich mich mutterselenallein fühle. „Bleib bei mir, Vincent? Ja? Ich kann nicht ohne dich leben, nicht mehr...", wispere ich und sehe zu wie sich sein Brustkorb senkt, aber nicht wieder hebt. Ich schnappe nach Luft und nehme die Hände von seinem Körper, übe auf die Wunde, die wie ein Krater aussieht, keinen Druck mehr aus, sodass noch mehr Blut heraus fliesst und sich über meine Knie ergiesst. „Nein! Bitte nicht...", ich schreie auf und sehe aus dem Augenwinkel wie sich jemand durch die Masse kämpft und als ich meinen Namen höre, drehe ich den Kopf nach rechts und sehe ihn.

„Sam?"

Meine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern, er sieht von mir zu Vincent und kniet sich danach neben mich. „Du musst wieder Druck ausüben, schnell! Sonst verblutet er. Wie lange ist es her?", fragt er mich, zieht sich seine Jacke aus und beginnt Vincents Leben zu retten. Blinzelnd öffne ich den Mund, doch kein Wort dringt über meine Lippen. „Na los!", drängt er mich. Geistesgegenwärtig drücke ich wieder auf die Wunde, höre Sam schreien, dass jemand den Notruf wählen soll. Eine Frauenstimme meint, dass sie dies schon getan hätte und der Rettungswagen bald hier sein müsste. Sam flucht etwas das ich nicht verstehe, doch er versucht weiterhin Vincents Leben zu retten.

Keine Ahnung wie lange das so geht, doch irgendwann hören wir die Sanitäter schreien, dass die Leute aus dem Weg gegen sollen. Und dann geht alles schnell, Vincents lebloser Körper wird auf die Trage gelegt, die Sanitäter reden miteinander, ihre Mienen sind verschlossen. Keiner scheint mich zu beachten, ich stehe da und sehe zu, wie sie Vincent wegbringen, sich einen Weg durch die immer grösser werdende Menge bahnen. Ich stehe neben mir, leide unter einem Schock und frage mich, ob Vincent eine Chance hat, oder ob ich ihn umgebracht habe. Denn ich wäre Schuld an seinem Tod! Ich habe ihn in Gefahr gebracht, von der er mich die ganze Zeit gewarnt hatte. Er wollte mich beschützen, schiesst es mir durch den Kopf, als wollte ich mich vor mich selbst herausreden.

Ein Blitzen reisst mich aus meiner Trance, und bevor ich realisiere was das bedeutet, nimmt Sam meine Hand und zieht mich hinter sich her. Immer wieder blitzt es, das Klacken von Kameras ist zu hören, sticht sich in meinen Kopf und sorgt für noch mehr Chaos. Ich schliesse instinktiv die Augen, als die Leute mich fotografierten, höre Sams Stimme, die die Menschenmenge dazu bringen will, damit aufzuhören. Einige schreien seinen Namen, und bei jedem Schrei zucke ich mehr zusammen, schrumpfe innerlich und wünschte nicht mehr hier zu sein. Der Flughafen kommt mir endlos lang vor, als ob ich auf der Stelle treten und keinen Schritt vorwärts kommen würde.

September - KEIN TAG OHNE DICHWhere stories live. Discover now