Auge des Sturms

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Stunden später saß Avis immer noch auf dem alten Sofa und dachte über das Gehörte nach. Milah hatte sich entschuldigt und war zu ihrer Arbeit aufgebrochen, wie sie erklärt hatte. Sie hatte Avis angeboten zu bleiben und ihr gesagt, dass sie Oben ein Gästezimmer hatte und dort auch ordentliche Kleidung finden würde. Avis hatte dieses Angebot dankend angenommen. Es gab ihr Zeit zum nachdenken und womöglich hatte sie in Milah tatsächlich eine Art Verbündete. Eine Vertraute. Vielleicht sogar eine Freundin.

Es würde vermutlich lange dauern, ein Unerledigtes Geschäft zu lösen, wenn erst so wenige es geschafft hatten. Außerdem wäre Hades ein weiteres Hindernis. Sie wusste schon jetzt, dass er alles daran setzen würde, sie hier zu behalten. Aber das kam ihr irgendwie gelegen, denn nun hatte sie Zeit mehr über ihren Bruder herauszufinden.

Mit einem Seufzer stand sie vom Sofa auf und kletterte die schmale Treppe hinauf. Am Ende eines kurzen Korridors befand sich eine halb geöffnete Türe. Avis spähte erst hinein und stieß sie dann mit dem Arm ganz auf. Es war ebenso spärlich möbliert wie auch unten das Zimmer. Ein Bett, ein Nachttisch und ein großer Kleiderschrank.

Am liebsten hätte sie ihre alte Kleidung an behalten, sah aber ein, dass man selbst in der Unterwelt nicht gern gesehen wurde, wenn man voll Blut und Dreck war. Sie nahm ein paar Kleidungsstücke mit ins Bad, um sich dort zu waschen und anschließend die neue Kleidung anzuziehen.

Sie ging zurück in das Schlafzimmer und stellte sich an das kleine Fenster. Von hier Oben konnte sie ein wenig mehr von der Stadt sehen. Viele der Gebäude waren schon halb zerfallen, Dämpfe stiegen auf und alles war in diesem Rot getaucht. Niemand war in diesem Teil zu sehen. Als sie sich gerade vom Fenster wegdrehen wollte, hörte sie aufgebrachte Stimmen. Schon war sie wieder am Fenster und beobachtete eine Gruppe Seeleute, die sich an das äußere Ende der Stadt bewegten. Avis fragte sich, warum diese Männer so aufgebracht waren.

Doch dann hörte sie einen Mann ganz deutlich: „Er hat uns nie von ihr erzählt! Seine Schwester...", seine Stimme wurde übertönt vom Grölen der anderen.

Kurzerhand entschied sich Avis dazu ihnen zu folgen. Schnell lief sie die Treppe hinunter und huschte aus der Tür hinaus. Als sie auf der Straße ankam, sah sie gerade noch zwei der Männer hinter einer Ecke verschwinden.

Sie beeilte sich ihnen zu folgen und rannte mit leisen Schritten hinterher. Sie war geübt darin Menschen zu verfolgen und dabei gänzlich unbemerkt zu bleiben. Ihre lange Zeit auf Neverland hatte ihr so vieles gelehrt.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Männer ihr Ziel erreicht hatten. Ein altes heruntergekommenes Haus umringt von Bäumen. Die Männer sammelten sich vor der Tür und als Avis nun näher kam erkannte sie ein paar Gesichter wieder. Sie war noch viel zu jung gewesen, als dass sie sich an ihre Namen erinnern könnte. Aber sie hatte gemeinsam mit Emilia im Hafen gestanden und ihnen Lebewohl gewünscht, als ihre beiden Brüder als Matrosen in See stachen. Sie waren die einzigen Überlebenden. Und die Crew war nun hier. Was hatte das zu bedeuten?

Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie auf einen Ast trat, welcher unter einem nicht überhörbaren Knacken zerbrach. Sie hatte keine Zeit mehr sich zu verstecken. Alle drehten sich nach ihr um.

Einer der älteren Männer kam auf sie zu: „Na sieh mal einer an. Wenn man vom Teufel spricht, Averil Jones. Bist ein wenig älter geworden seit dem letzten Mal!" Er lachte auf.

„Was man von Euch nicht gerade sagen kann", erwiderte sie spöttisch. „Wohnt Liam hier?", fragte sie und trat an dem Seemann vorbei, näher auf das Haus zu.

Ein anderer schnaubte verächtlich: „Besser wäre es für ihn..."

„Was meint Ihr?", sie fuhr herum.

„Er meint, es wäre besser für deinen Bruder, wenn er wenigstens mit seinem Wohnort bei der Wahrheit geblieben wäre!", meldete sich ein Dritter zu Wort.

Avis war sichtlich verwirrt: „Warum hat er euch belogen?"

„Um dich und seinen nutzlosen Bruder zu retten natürlich. Die Situation auf dem Schiff war ausweglos und da hat er mit unseren Seelen gehandelt für das Auge des Sturms und eure Unversehrtheit", erklärte ein Mann, den Avis als den damaligen Kapitän erkannte.

Langsam verstand sie. Deshalb hatten ihre Brüder überlebt. „Warum benutzt ihr nicht einfach mich als euren Racheakt?", fragte sie die Seeleute provokant und verschränkte die Arme vor der Brust.

Der, der als erstes auf sie zugekommen war trat abermals einen Schritt nach vorne: „Weil die schwarze Lady geschworen hat, dass jeder, der versucht dir etwas zu tun an einen noch schlimmeren Ort kommt!"

„Noch schlimmer?", wiederholte Avis ungläubig.

Die Männer warfen sich verstohlene Blicke zu und nickten langsam.

Woher hatte diese Dame so viel Macht über alles? Sie hatte sie hierher gebracht. Sie hatte mit dem Herr der Unterwelt verhandelt. Wenn sie sogar die bereits Gestorbenen beherrschen konnte, wie viel Macht besaß diese Frau wirklich? Dann war da auch noch das, was Milah gesagt hatte: Wenn du mich fragst, bist du gar nicht tot.

Als sie ihre Gedanken ein wenig geordnet hatte schaute sie jedem der Männer nacheinander in die Augen: „Sie hat euch befohlen mir nichts anzutun. Dann befehle ich euch jetzt: Verschont ihn. Jedenfalls für den Moment", sie wendete sich ab und ging auf die Haustür zu: „Ich würde gerne selbst mit meinem Bruder reden!"

„Warum sollten wir deine Befehle befolgen? Was kannst du uns anhaben?", rief der Kapitän.

Avis grinste: „Ich scheine dieser Lady wichtig zu sein! Und wenn ihr Liam verletzt, dann sorge ich dafür, dass sie dass erfährt."

Einigen der Matrosen lief es eiskalt den Rücken hinunter, keiner wagte ihr etwas entgegen zu setzten. Einige starrten sie mit respektvollen Mienen an, andere blickten empört aber eingeschüchtert. Avis bekam von den Reaktionen der Männer nichts weiter mit, denn sie hatte sich bereits zur Haustür hinauf begeben.

Im Haus war es dunkel. Vielleicht hatte Liam tatsächlich gelogen. „Liam?", rief sie fragend durch das alte Gebäude. Sie bekam keine Antwort, doch sie spürte die Anwesenheit einer Person. So still wie möglich begab sie sich zur Küchentür und spähte hinein. Niemand war dort in dem durch Bretter verdunkelten Raum zu sehen. Seufzend stützte sie sich am Türrahmen ab und wollte im Obergeschoss weitersuchen, als sich eine raue Hand auf ihren Mund legte. Trotzdem erschrak Avis nicht, denn sie hatte so etwas schon erwartet. Er hatte ihre Vermutung mit dieser Aktion nur bestätigt: Er hatte etwas zu verheimlichen und sie war nun noch mehr davon überzeugt herauszufinden, was das war, als noch wenige Stunden bevor.

Mit einem gezielten Hieb und einem gekonnten Schlag versuchte sie die Oberhand zu erlangen. Jedoch scheiterte sie. Liams Konter waren stärker. Ein kräftiger Stoß ließ sie zurück taumeln und das Gleichgewicht verlieren. Hart schlug sie mit dem Kopf auf den abgenutzten Holzdielen auf und ihr wurde schwarz vor Augen.

Once Upon A Time - Losing AverilWhere stories live. Discover now