Prolog

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Die endlos scheinende Straße war nur spärlich beleuchtet, als ich mich auf den Nachhauseweg machte. Die lange Gasse war der schnellste Weg, um von meiner Arbeitsstelle aus dorthin zu gelangen. Der Regen prasselte erbarmungslos auf mich nieder, seit einer Woche war das Wetter der reinste Alptraum: Es war Mitte Juni und doch war das Klima mittlerweile so kaputt, dass es keinen Unterschied mehr machte, um welche Jahreszeit es sich handelte.

Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, musste ich gestehen, dass ich Unwetter liebte. Die Straßen dieser sonst so überfüllten Stadt waren menschenleer, nur in der Ferne konnte man kleine Kinder rufen hören. Ich blickte gen Himmel, Regentropfen liefen in meine Augen und mittlerweile klebte meine Kleidung wie eine zweite Haut an mir. Mir fällt kein passendes Wort ein, um dieses Gefühl zu beschreiben, doch alles in mir fühlte sich glücklich an. Ich fühlte mich wohl und geborgen, hatte keine Angst, keine Zweifel und niemand konnte mir in diesem Moment das Gefühl der Freiheit nehmen.

Die Gasse vor mir wurde schmaler, schlängelte sich in einer Fragezeichenkurve zwischen dicht stehenden Backsteingebäuden, die schon ziemlich in die Jahre gekommen waren, und mündete im Mayfield District. Nicht der schönste Ort der Stadt: viele Obdachlose kauerten unter ihren provisorischen Zelten, Junkies setzten sich die nächste Spritze, um halbwegs klar zu kommen, und allerhand zwielichtige Typen trieben hier Nachts ihr Unwesen.

Ich zog meinen Mantel etwas fester um meinen Körper und wollte schnellstmöglich diesen Ort verlassen. Den Blick fest auf meine Schuhe gerichtet, beschleunigte ich meine Schritte, um die letzten paar Meter nach Hause zurückzulegen.

Als ich um die nächste Ecke gehen wollte, vernahm ich ein gequältes Stöhnen neben mir. Aufgrund der spärlichen Lichtverhältnisse konnte ich jedoch auf den ersten Blick niemanden erkennen. Etwas ängstlich flüsterte ich „Hallo?", aber meine Stimme wurde vom Wind verschluckt, der durch die dunkle Straße pfiff. Also räusperte ich mich kurz und versuchte es erneut, diesmal etwas lauter: „Ist da jemand?" Ein erneutes Stöhnen, dieses Mal klang es gurgelnder, als wäre die Person dabei zu ersticken. Panisch sah ich mich um, rechts neben mir waren zwei große Müllcontainer, auf die ich einige Schritte zuging. Zwischen den Containern konnte ich eine im Halbdunklen verborgene Silhouette erkennen.

„Hilf mir!" Der Mann krächzte. Er war alt, ich schätzte ihn auf Mitte 50. Er sprach so leise, dass die Geräusche des Windes seine Stimme fast vollständig verschluckten. „Hilfe!" In meinem ersten Impuls wollte ich einfach weglaufen, denn alles in mir schrie:" lauf!" Doch dann hob der Mann seinen Kopf - seinen blutverschmierten Kopf - und streckte den Arm nach mir aus.

„Bitte..." Seine Augen waren trüb und geschwollen, als er mich flehend ansah. „Bitte geh nicht weg", krächzte er, während Blut aus seinem Mut tropfte. Ich ging einige Schritte auf den Mann zu. „Was ist passiert?" Seine dunkle Kleidung war zerrissen und seine Schuhe vom Matsch der Wege sehr dreckig, aber er wirkte auf mich nicht wie ein Obdachloser oder jemand, der keine Mittel hatte, eher wie ein Familienvater. Seine blutverschmierten Haare waren kurz geschnitten, aber gepflegt. „Ich werde Hilfe holen" - mit diesen Worten griff ich in meine Tasche und zog mein Handy heraus.

„Dank..." Der Mann schluckte und sein Blick wurde ausdrucklos, es schien, als würde er durch mich hindurch sehen. Nein, nicht durch mich, hinter mich. Mein Herz hatte aufgehört zu schlagen, als ich mich langsam umdrehte und in ein Paar leuchtend blaue Augen blickte.

„Das solltest du nicht tun, Liebes", sagte der Fremde, den Blick auf mein Handy gerichtet, das ich immer noch in der Hand hielt. Seine Mundwinkel zuckten bei diesen Worten leicht.

Dunkles Verlangen [✔️] Where stories live. Discover now