I. Mondsucht

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"Du kannst nicht zu Mut gelangen
ohne durch Verletztlichkeit gegangen zu sein."

Brene Brown

Magnus' Pov

Das unkontrollierte Zittern meiner Hand lässt sich partout nicht abstellen. Der Zorn frisst sich allmählich durch meine Gefäße und ergreift mehr und mehr Besitz von mir. Von dem sorgfältig gefalteten Brief in meiner Hand, ist jetzt kaum noch etwas zu erahnen.

"Guten Morgen, Magnus. Ich habe Sie schon erwartet. Nehmen Sie doch Platz", begrüßt mich Mrs. Herondale vom Sekretariat.
"Vielen Dank, ich stehe lieber", presse ich angestrengt heraus.

"Ich verstehe." Ihr Blick fällt wandernd auf meine unruhige Hand und ich spüre, wie sich die sonst so kontrollierte Dame vor mir, merklich unwohler in ihrer Haut fühlt.
"Wie ich sehe, haben sie meinen Brief gelesen, Magnus", stellt Mrs. Herondale sachlich fest.
"In der Tat. Ich lege Berufung ein", erwidere ich knapp.

Für einen Augenblick betrachtet sie mich verdutzt.
"Sie wissen schon, dass Sie hier auf dem College und nicht vor Gericht sind? Für Anordnungen der Schulleitung können Sie keine Berufung einlegen."

"Und wie ich das kann. Mir steht dieses Einzelzimmer zu. Ich habe alle nötigen Unterlagen und Bescheinigungen abgegeben, die mich dafür prädestinieren, Anspruch auf ein Einzelzimmer zu haben", entgegne ich aufgebracht und tigere ruhelos in Mrs. Herondales Büro herum. Es ist mir gleich, dass ich dabei die neugierigen Blicke meiner Kommilitonen aus dem Wartebereich auf mich ziehe.

"Ich weiß, Magnus. Es ist nur leider so, dass wir einen Engpass an Betten im Wohnheim haben und wir Nachzüglern, die in der Nähe noch keinen festen Wohnsitz haben, ein Zimmer zur Verfügung stellen müssen. Und da sie der Einzige aus dem Erstsemester mit einem Einzelzimmer sind...", redet sie sich fadenscheinig heraus. Alles Lügen.

Verzweifelt raufe ich mir die Haare und versuche einen Ausweg aus dieser verzwickten Situation zu finden.
"Magnus, ich verspreche Ihnen, sobald ein Bett frei wird..."
"Wie können Sie etwas versprechen, was Sie überhaupt nicht in der Hand haben?!", unterbreche ich sie barsch.
"Bitte Magnus, beruhigen Sie sich." Beschwichtigend hebt Mrs. Herondale ihre Hände und redet wirkungslos auf mich ein.

Spätestens jetzt bin ich mir sicher, dass Sie Angst vor mir hat. Vermutlich bekomme ich einen roten Eintrag in meine Akte. Ich mag rot.
"Ich bin ruhig, völlig ruhig", antworte ich in ungewöhnlich hoher Stimmlage. Das kann doch alles nicht wahr sein.

"Ich möchte Ihnen jetzt Ihren Mitbewohner vorstellen. Er wartet bereits am Empfang", stellt sie mich jetzt vor vollendete Tatsachen und erhebt sich von ihrem Stuhl.
"Großartig", grinse ich teuflisch und spanne bereits das Band meiner imaginären Zwille.

"Sein Name ist Alexander Lightwood, er studiert Naturwissenschaften und ist ein äußerst höflicher junger Mann. Es wäre schön, wenn Sie ihn gleich mit ins Wohnheim nehmen und ihm alles zeigen", erklärt mir Mrs. Herondale auf dem Weg zum Empfang des Sekretariats.

"Davon war nie die Rede!"
"Magnus, bitte seien Sie nett. Sollten mir Beschwerden von Mr. Lightwood kommen..."
"Ach, jetzt drohen Sie mir auch noch?", stelle ich entsetzt fest und versperre ihr den Weg.

"Mrs. Herondale?", vernehme ich eine samtige Stimme hinter mir.
"Mr. Lightwood", begrüßt Mrs. Herondale meinen Hintermann freundlich.
Ich hoffe, dass dieser Alexander grässlich entstellt ist und es mir dadurch leichter macht, ihn abstoßend zu finden.

Zögerlich drehe ich mich zu ihm und vergesse doch tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde, wie ich lebensnotwendige Luft in meine Lungen befördere.
Natürlich ist dieser Alexander nicht grässlich entstellt. Er ist perfekt. Groß, athletischer Körper, die der elementaren Ordnung trotzig die Stirn bieten und dann diese unendlich tiefblauen Augen. Malerisch schön.

Nachtwandeln 🌔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt