XXVI. Nachtwandeln 🌔

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"Nur im Wandel können wir werden,
nur im Vergehen kann Neues entstehen."

M. B. Hermann

Magnus' Pov

Bis zum heutigen Tag war ich mir sicher, was körperlicher Schmerz wirklich bedeutet, doch in diesem Moment weiß ich, ich hatte nicht die leiseste Ahnung.

"Magnus, du machst das toll.
Halt noch etwas aus, du hast es gleich geschafft", versucht mich Alexander heldenhaft zu beruhigen und schafft es tatsächlich, einfach durch die Samtheit in seiner Stimme und die Tatsache, dass er fürsorglich meine Hand hält. Sein Daumen malt immer wieder kleine Kreise auf meinem Handrücken, vielleicht sind es aber auch Herzen.

Dennoch kann auch Alexander nicht verhindern, dass sich ein tief pochender Schmerz in meinem linken Schulterblatt ausbreitet. Zudem erinnert mich das heftige Vibrieren der Nadel an lange und nervenaufreibende Sitzungen beim Zahnarzt.

"Das hast du schon vor zehn Minuten gesagt", presse ich mit Mühe heraus.
Alexander setzt eine entschuldigende Miene auf und küsst zärtlich meine Hand.
"Du bist der stärkste Mensch, den ich kenne, Magnus Bane", flüstert er mir zu und bedenkt mich mit einem Blick, der mehr sagt, als es Worte je könnten.

Die vergangenen Monate laufen wie eine Diashow vor meinem inneren Auge ab. Sie hielten wahrlich mehr Schicksalsschläge und Überraschungen für uns bereit, als wir bisher verarbeiten konnten. Noch immer befinden Alexander und ich uns im Heilungsprozess, geben dem anderen Halt und schweigen zusammen, wenn wir für Emotionen keine Worte finden.

"Alles klar. Fertig." Die teuflische Nadel verstummt endlich. Ich werfe ihr nochmal einen vernichtenden Blick zu, auch wenn ich mich ihr freiwillig ausgeliefert habe.
"Verraten Sie mir jetzt, was es bedeutet?", will der Künstler hinter mir wissen.

"Es bedeutet 'Mut'", verrate ich ihm.
"Nun, der steckt wirklich in Ihnen, wenn Sie sich bei Ihrem ersten Tattoo für so ein großes Motiv entschieden haben. Die meisten beginnen mit etwas Kleinem, einem Schmetterling oder einem Schriftzug, der Name ihrer großen Liebe beispielsweise."

"Ich bin nicht so der Schmetterlings-Typ und den Namen meiner großen Liebe brauche ich mir auch nicht tätowieren zu lassen, denn den trage ich bereits in meinem Herzen."

Vorsichtig setze ich mich auf, verharre noch einen Moment auf der Behandlungsliege und lasse mir den Folienverband anlegen.
"Dürfte ich vorher vielleicht noch ein Foto davon machen?", fragt mich der Tätowierer erwartungsvoll.

"Sicher."
"Möchten Sie auch eins?", wendet er sich nun an Alexander, während mehrere Schnappschüsse von meinem Schulterblatt gemacht werden.
"Danke, nein. Eins reicht", kichert er.
Ich spüre plötzlich die Spannung und Ungeduld hinter mir, die ausschließlich an meine bessere Hälfte gerichtet ist.

Nach einem kurzen Augenblick des Haderns kehrt uns Alexander schließlich den Rücken zu, entledigt sich seines himmelblauen Shirts und präsentiert uns die feinen schwarzen Linien auf seinem Rücken, in voller Pracht und Schönheit.

"Wow. Es ist unglaublich schön", bestaunt der Fachmann vom Dienst.
Derselbe Gedanke bildet sich in meinem Kopf, obwohl ich weniger an das Tattoo denke.
"Tolle Arbeit. Auch eine Rune, ja?"
"Richtig. Sie bedeutet Loyalität."

"Auch wenn ich es nicht gestochen habe, würde ich es ebenfalls gern fotografieren. Vielleicht zusammen mit dem Ihres Partners?", fragt uns der Tätowierer vorsichtig.
Alexander antwortet für uns beide, indem er neben mir Platz nimmt, lehnt dabei sanft mit seiner Schulter an meiner.

Nachtwandeln 🌔Où les histoires vivent. Découvrez maintenant