Kapitel 20 ~ Das Märchen von Sonne und Mond

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Ich hielt die Kerze höher, sodass ihr weiches Licht sie silberne Feuerschale in der Mitte des Pavillons streifte, doch die Schatten blieben undurchdringlich. „Wer ist da?" Die Person trat aus der Dunkelheit und in das Licht hinein. „Beruhige dich. Ich bin es nur." Ich wusste nicht, ob ich Cardans Anblick wirklich als beruhigend empfinden sollte. Trotzdem ließ ich die Kerze wieder sinken und atmete etwas ruhiger. Sofort wirbelten alle möglichen Fragen durch meinen Kopf. Mehrere Sekunden blickte ich ihn einfach nur an, dann hatte ich meine Gedanken zum Glück wieder geordnet. „Warst du etwa in meinem Zimmer?" Er sah mich perplex an

„Was, nein, natürlich nicht. Ich bin geradeeben erst hierhergekommen und zwar direkt aus dem Thronsaal. Wieso fragst du das?" Ich hielt ihm die Rose hin. „Der Türkisstaub war da vorher noch nicht drauf. Von meinem Zimmer bis hierher führt eine ganze Spur." Er runzelte die Stirn und betrachtete die Blütenblätter. „Ich war das definitiv nicht und ich habe auch keine Ahnung, wer das sonst gewesen sein könnte. Hast du nichts mitbekommen?" Ich schüttelte den Kopf, wollte aber nicht erwähnen, warum. Stattdessen sah ich mich genauer um. „Was ist das hier für ein Ort?" Cardan grinste kurz. Er nahm mir die Kerze aus der Hand und entzündete das Holz in der Feuerschale. Die Säulen, welche das steinerne Dach trugen, wurden in warmes Licht getaucht und so erkannte ich die Gravuren darin augenblicklich.

Ich hielt die Luft an und sah nach oben. Meine Erinnerungen hatten mich nicht getäuscht. Es waren wirklich die Bilder, die ich seit meiner frühsten Kindheit kannte. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Schnell hatte ich die Anfangssäule gefunden und war hinübergegangen, wobei ich die Rose auf dem Weg ins Feuer warf. Die Säulen, das Dach, sogar der Boden war mit den Reliefen verziert, die mir so vertraut waren wie dir Linien auf meinen Handgelenken. Zögerlich legte ich meine Hand auf den Anfang. „Das Märchen von Sonne und Mond.", hauchte ich verzückt.

„Was ist mit Sonne und Mond?" Cardan war nähergetreten und sah fragend über meine Schulter. Ich wandte den Blick von den Bildern ab und legte erstaunt den Kopf schief. „Kennst du nicht die Märchen von Anbeginn?"

„Klar kenne ich die. Das sind die Geschichten, wie die Länder entstanden, die später zu Asche zerfielen und ins Meer sanken. Aus denen hat Königin Mab Insmire, Insweal und Insmoor geformt. Aber von irgendwas mit Sonne und Mond habe ich noch nie etwas gehört."

„Das Märchen von Sonne und Mond war die dreizehnte und letzte Geschichte, welche zum Anbeginn gehörte. Das Besondere an ihr ist, dass man nicht weiß, ob sie wahr ist, weil sie das erste Mal von einem Menschen aufgeschrieben wurde, der behauptete, sie von einer sehr alten Elfe zu kennen. Meine Mutter hat mir dieses Märchen früher immer vorgelesen. Es war meine Lieblingsgeschichte. Irgendwie habe ich wahrscheinlich deswegen angefangen, mich für Artefakte zu interessieren."

„Warum genau?"

„Hinter jedem Artefakt steckt eine Geschichte, die nur darauf wartet, gelesen und entschlüsselt zu werden. Das fasziniert mich so daran." Wieder fuhr ich die eingekerbten Linien nach und konnte nicht aufhören, zu lächeln. „Und was für Artefakte sind beim Anbeginn..."
„Gar keine. Nicht alle Geschichten hinterlassen uns Artefakte und der Anbeginn erzählt schlicht und einfach die Entstehung von Elfenheim. Dem ursprünglichen Elfenheim. Dem Reich der Rache."

„Und was passiert in der letzten Geschichte jetzt genau?" Ich wandte mich von den Bildern ab, ging ich die Mitte des Pavillons zurück und setzte mich auf den Boden, den Kopf an den Sockel der Feuerschale gelehnt. Cardan sah mich zwei Sekunden lang fragend an, dann kam er dazu und setzte sich neben mich. Ich hob den Blick und sah zum Mond hinauf, bevor ich die Augen schloss und eine Zeit lang gar nichts sagte. Dann schlug ich sie wieder auf und begann mit leiser Stimme zu erzählen.

ElfenkussWhere stories live. Discover now