Kapitel 29 ~ Die Königin der Geschichten

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Cardans Sicht:

Schon als alles angefangen hatte, sich zu drehen, hatte ich geahnt, worauf das hinauslief. Deswegen kannte sie sich so gut mit dem Zauber aus. Sie hatte ihn die ganze Zeit um den Hals hängen. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass es nicht meine Erinnerungen waren und ich sie trotzdem sah oder daran, dass es explizit Crystals Erinnerungen waren, aber der Sturm der Vergangenheit war stärker, kälter als meiner. Er riss einen eher in die Tiefe und zwang einem die ungewollten Bilder schneller auf. Es dauerte eine Weile, bis der Orkan aus Licht und Schatten aufhörte. Vermutlich waren wir ziemlich weit in die Vergangenheit gereist. Wie viele Gedanken hat sie bitte hier drin aufbewahrt...?


Als die Welt endlich wieder stillstand, sah ich mich zögerlich um. Anhand der bunten Blätter und der frischen, aber noch immer lauwarmen und seichten, Brise konnte man davon ausgehen, dass wir uns im Herbst befanden. Fast wäre ich erschrocken zusammengezuckt, als ich den Ort erkannte. Ich wusste, wo wir waren. Nicht wann, aber wo. Zwar war das hohe Gebäude aus Stein und Holz weniger stark von Efeu und anderen Kletterpflanzen überwuchert als ich es kannte, jedoch war ich in den vergangenen Jahren schon so oft hier gewesen, dass ich es immer wieder erkennen würde. Lockes Anwesen.

Vorsichtig blickte ich zu Crystal hinüber. Sie hielt die Augen zur Hälfte geschlossen, als wolle sie nicht sehen, wo wir uns befanden. Das Gesicht eines Engels, die Seele eines Dämons. Ich hätte es wissen müssen. Wieder wallte die Wut in mir auf. Kurz musste ich leise knurren. Wäre mein Schweif nicht unter mein Hemd geklemmt, würde er nun wütend hin und her schlagen. Sie schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, denn sie warf mir einen Blick zu, der zu sagen schien: Warte ab. Dann deutete sie nach links. Stirnrunzelnd folgte ich ihrer Aufforderung.


Eine Frau kam in unsere Richtung. Ihre zierliche Gestalt verschmolz fast komplett mit dem goldenen Hintergrund. Ihre lockigen, kunstvoll geflochtenen und von bunten Perlen durchzogenen Haare hatten die Farbe von bräunlichem Fuchsfell und waren von pastellgelben Strähnen durchzogen. Mehr konnte man aus der Ferne nicht erkennen, doch je näher sie kam, desto klarer wurde mir, dass ich sie kannte. Also...nicht sie persönlich. Aber ihr Abbild. Vaters Geliebte. Es durchzuckte mich wie ein Schlag, spätestens, als sie nah genug war, um ihre Augenfarbe zu sehen. Das Innere ihrer Iris war unnatürlich türkis, etwa in der Mitte kam dann ein scharfer Schnitt, dann wurden ihre Augen urplötzlich goldbraun. Sie ist ihre Tochter.

Ich hätte es sehen müssen. Von Anfang an hatte diese Frau mich an sie erinnert und dennoch hatte ich die Zeichen nicht erkannt. Nun, wo ich den Vergleich der Beiden vor mir hatte, konnte man ihre Ähnlichkeiten nicht abstreiten. Das gleiche zarte Gesicht, die gleichen Wellen im Haar, die gleiche geringe Körpergröße, die aber von der geraden Haltung und einer geheimnisvollen Ausstrahlung ausgeglichen wurde. Es war kaum zu glauben, dass ich nicht sofort erkannt hatte, dass die Beiden verwandt waren. „Mom!" Der Ruf eines Kindes riss mich aus meinen Gedanken und ließ mich aufblicken.

Eine vielleicht fünf- oder sechsjährige Version von Crystal rannte aus dem Haus und ihrer Mutter entgegen. Augenblicklich löste die Erschöpfung in deren Gesicht sich auf und wich einer Lebensfreude, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ihre Schritte wurden schneller und als sie aufeinandertrafen, nahm sie Crystal hoch und wirbelte sie im Kreis herum. Die Kleine quietschte und kicherte, während ihr langer blassrosa Rock um sie herumflatterte wie eine Wolke. Ihre Mutter stimmte in ihr Lachen ein, setzte sie aber nach einer Weile wieder ab und sah etwas tadelnd zu ihr herunter. „Hatte ich euch nicht ausdrücklich gesagt, dass ihr drinnen blieben sollt? Es wird allmählich zu kalt, um den ganzen Tag draußen herumzurennen."

ElfenkussWhere stories live. Discover now