5. Von Hunden und Engeln

2.4K 77 9
                                    

Good morning, my dears :)

Viiielen Dank für die Rückmeldung zum letzten Kapitel, ihr helft mir sehr :)

Mögt ihr Fero47 eigentlich? Also, den echten :D

<3

___________________________________________________________________

"Treat me like a prisoner - Treat me like a fool - Treat me like a loser - Use me as a tool - Face me 'til I'm hungry - Push me in the cold - Treat me like a criminal - Just a shadow on the wall - Treat me like I'm evil - Push me 'til I fall - Treat me like a criminal - Just a shadow on the wall"

Mike Oldfield – Shadow on the wall


Er rauchte nicht. Eigentlich rauchte er nicht, es war ungesund, es schmeckte nicht, und sein Vater hätte ihn skalpiert, wenn er herausgefunden hätte, dass Ferhat hinter einem Stripclub den nikotinhaltigen Rauch inhalierte. Er tat es auch wirklich nie. So gut wie nie. Manchmal auf Partys, okay. Aber nicht im Normalfall. Und trotzdem hatte er sich von einem der Security Guards ein Päckchen Marlboro besorgen lassen, sich eine rausgenommen und das noch beinahe volle Päckchen gleich wieder weggeworfen.

Und dann hatte er sich zu einem Hinterausgang durchgefragt, wo er sicher war vor neugierigen Blicken, hatte sich bei einem der Barkeeper ein Feuerzeug geliehen und nun stand er in dem unordentlichen Hinterhof des Clubs. Ein bisschen kam er sich vor wie damals, in der Schule. Die erste heimliche Kippe hinter der Turnhalle...

Aber er musste nachdenken. Ruhig nachdenken. Und das konnte er nicht, wenn die angeheiterten Musiker um ihn herum feierten und Irina immer wieder spitze Bemerkungen in Richtung der ‚Prostituierten' fallen ließ. Obwohl es kühl war hier hinten, war Ferhat immer noch warm. Er hatte das Gefühl, die Musik noch in sich nachvibrieren zu spüren. Vielleicht war es kindisch, so an den Bewegungen einer ihm unbekannten Frau zu hängen, doch der Gedanke ließ ihn nicht los. Seit er in Berlin war, hatte er viele Frauen erlebt, die versuchten, eine Version von sich zu verkaufen, die nicht der Wahrheit entsprach. Warum auch immer. Selbstbewusstsein machte eine Frau schön, keine Haarfarbe. Und trotzdem...

Er zuckte zusammen, als die schwere Stahltür hinter ihm auf einmal geöffnet wurde und der dumpfe Lärm der Partygesellschaft sich nach draußen ergoss. Wie ertappt versteckte er die glühende Zigarette hinter seinem Rücken und hoffte, dass er trotz seines weiß leuchtenden Hemds nicht weiter auffiel. Doch als die Person, die den Club soeben verlassen hatte, in den Lichtkegel einer der Straßenlaternen trat, keuchte er laut auf. Die halb aufgerauchte Zigarette fiel zu Boden und erlosch dort. Das war sie, seine milyaket.

Ferhat dachte nicht über seine nächste Handlung nach, er blendete aus, dass seine Kollegen noch immer in dem Club waren und ihn wahrscheinlich bald vermissen würden. Stattdessen beeilte er sich, der jungen Frau zu folgen, die zielstrebig auf eine Bushaltestelle zulief und sich dort auf eine Bank setzte. Ferhat hatte seine Sonnenbrille wieder aufgesetzt, drückte sich jetzt an einem der Stromkästen herum, und beobachtete sie. Die hüftlangen braunen Haare hatte sie hochgesteckt, was ihre Wangenknochen aber nur noch mehr betonte. Und ihr Gesicht...ohne Maske war es noch hundert Mal schöner. Absolut ebenmäßig, die Haut schien zu leuchten. Sie sah nicht auf, Ferhat erhaschte keinen weiteren Blick in ihre blauen Augen. Dann kam der Bus.

Die Frau hatte ein Buch ausgepackt und stieg nun ein, ohne aufzublicken. Hin- und hergerissen warf Ferhat noch einen Blick die Straße hinunter. Obwohl in der Parallelstraße ein Club an den anderen gereiht war, war es in den Seitengassen ruhig und beinahe ausgestorben. Und dann, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wohin das führen sollte, lief er los und sprang gerade noch in den Bus, bevor sich dessen Türen zischend schlossen.

Der Busfahrer schien ihn nicht bemerkt zu haben, und so setzte sich Ferhat vier Reihen hinter die Frau. Sie waren die beiden einzigen Fahrgäste. Ferhat war schon ewig keinen Bus mehr gefahren. Er liebte sein Auto, und zur Not tat es ein Taxi. Öffentliche Verkehrsmittel waren für ihn keine gute Idee, um von A nach B zu kommen. Zu viele Fans. Aber um diese Uhrzeit schien er sich keine Sorgen um Autogrammjäger machen zu müssen. Stattdessen fuhr er zwanzig Minuten lang quer durch Berlin, die Augen fest auf den gesenkten Kopf der Tänzerin geheftet. Sie sah nicht einmal auf.

Erst, als Ferhat sich langsam Sorgen zu machen begann, ob die junge Frau überhaupt noch einmal aussteigen wollte, erhob sie sich kurz vor der Endstation. Mitten in einem der Berliner Viertel, das Ferhat ziemlich gut kannte. Hier gab es nichts, außer Sozialfällen. Neukölln war allerdings wirklich kein Ort, an dem Frauen nachts alleine unterwegs sein sollten. Aber die Tänzerin stieg aus, und so folgte Ferhat ihrem Beispiel. Achtete auf einen größtmöglichen Abstand, um die Aufmerksamkeit der Frau nicht auf sich zu lenken. Vorbei an liegengebliebenen Autos und Sperrmüll, übervollen Mülltonnen und Dreck. Das konnte doch nicht sein. Hier sollte dieser Engel wohnen?

Tatsächlich. Sie verschwand im Hauseigang einer achtstöckigen Bruchbude, jedoch nicht, ohne vorher einen Blick in einen Briefkasten geworfen zu haben. Den dritten von links. Ferhat wartete, bis die Tür ins Schloss fiel, dann raste er los. Mit fliegender Hast glitt sein Blick die Kästen entlang.

A. Bauer

Ferhat lehnte sich an die Wand und schloss für einen Moment die Augen. Was tat er hier? Irgendeiner fremden Frau durch halb Berlin folgen, wie der letzte Stalker – er lachte auf, verstummte aber sofort wieder, weil er sich selbst unheimlich wurde. Anscheinend vertrug er doch weniger, als er gedacht hatte. Wenn ihm der Alkohol schon so die Sinne vernebelte, dass er einer Tänzerin hinterherlief, wie ein Straßenhund, dann sollte er anfangen, sich Gedanken zu machen.

Er atmete tief ein und begann zu husten. Was war das überhaupt für ein ekelerregender Gestank? Ferhat vergaß gerne, dass Berlin immer wieder Probleme mit der Müllentsorgung hatte, in seinem Kiez kam so etwas nie vor. Noch einmal glitt sein Blick über den unordentlichen Hinterhof. Unglaublich, dass so ein hübsches Mädchen hier –

„Hey, chico!"
Ferhat zuckte zusammen und fuhr herum. Vor ihm stand ein Kerl, etwa so groß wie er, aber breiter gebaut, in einem eng anliegenden, weißen T-Shirt und einem Sonnentattoo am Arm. Er grinste ihn an, aber in seinem Blick lag etwas Lauerndes.
„Suchst du jemanden?"
Ferhat fuhr sich mit den feuchten Handflächen über die Designerjeans. Er konnte nicht sagen, was genau ihm an seinem Gegenüber missfiel, aber er fühlte sich in dessen Gegenwart unwohl.
„N-Nein!"
„Und was machst du dann um drei Uhr nachts hier?"
Der Fremde fragte das nicht mit einem aggressiven Unterton, eher neugierig bis misstrauisch. Auf einmal wurde Ferhat selbst klar, wie deplatziert er hier wirken musste, mit seinem strahlend weißen Hemd, den D&G-Jeans, den nagelneuen Nikes und der Sonnenbrille. Schnell vergrub er die linke Hand in der Hosentasche, in der Hoffnung, dass der Mann die teure Uhr an seinem Handgelenk nicht bemerkt hatte.

„Ich wollte gerade gehen. Hab nur – nur was nachgeschaut. Schönen Abend noch!"
Und dann lief er los, in Richtung Straße. Zurück zu seinem Leben.

~

„Hey, Faysal, lass Emilio in Ruhe, er hatte den Ball zuerst! Hier, setz dich zu mir, dann malen wir zusammen etwas."
Seufzend rückte Adriana zur Seite, als der siebenjährige Junge zu ihr auf die Bank kletterte und mit seinen schmutzigen Händen nach den Buntstiften griff. Ihr Blick wanderte über den kleinen Spielplatz und die angrenzende Wiese, auf der einige der Kinder Fußball spielten. Das Mittagessen war seit einer Stunde vorbei, und um drei war sie hier fertig. Zum Glück. Seit elf Uhr war sie nun hier, mit nur fünf Stunden Schlaf nach der langen Nacht im Club.

Sie war eine der freiwilligen Helferinnen, die sich um die sozial vernachlässigten Kinder Berlins kümmerten, die in das Haus Sonnenschein kamen, um wenigstens eine Mahlzeit am Tag zu bekommen, Hilfe bei den Hausaufgaben oder einfach die Möglichkeit, mit Gleichaltrigen unter Aufsicht zu spielen. Sie tat das gerne, es freute sie immer wieder, die Jungen und Mädchen zu beobachten. Sie waren alle schon mit so wenig zufrieden, für Adriana war es nur schwer verständlich, wie gleichgültig viele Erwachsene mit ihrem Nachwuchs umgingen. Emilio war einer der Extremfälle, seine Mutter war abgehauen, als er zwei war, und sein Vater lag regelmäßig betrunken in irgendeiner Kneipe. Emilio selbst war ziemlich aggressiv, er hatte gelernt, dass Schläge ganz klar ein Mittel waren, um zu bekommen, was er wollte. Anfangs hatte Adriana kaum gewusst, wie sie mit dem tobenden Jungen umgehen sollte, doch irgendwann war ihr klar geworden, dass der Kleine einfach um die Aufmerksamkeit kämpfte, die ihm sein ganzes Leben lang verwehrt geblieben war. Seitdem kümmerte sie sich besonders um das schwarzhaarige Kind mit den braunen Knopfaugen.

„Guck Adriana! Ich habe die 187 Strassenbande gemalt!"
Adrianas Blick wanderte von Emilio zurück zu Faysal.
„Was?", fragte sie. Von dieser Bande hatte sie noch nie gehört. Ob das ein neuer Trend bei den Kinderserien war?
„Na, die 187 Strassenbande! Und da ist RAF Camora!"
Er deutete auf ein Strichmännchen, dem ein schwarzer Vogel am Arm klebte. Adriana biss sich auf die Lippen. Schon wieder Raphael Ragucci. Was hatte der mit einer Kinderbande zu tun?
„Toll sieht das aus. Zeig es mal Gudrun, vielleicht hängt sie es auf."
Faysal rutschte von der Bank und lief in das kühle Gebäude, in dem eine der anderen Helferinnern gerade aufräumte. Müde legte sie für einen Moment die Stirn auf den Holztisch, der im Schatten eines großen Baumes stand. Kurz blendete sie die schreienden Kinder und die Autos der nahen Straße aus, um ihre Gedanken zu ordnen. Seit gestern hatte sie ein komisches Gefühl. Schon den ganzen Heimweg über. Sie schob es auf die Unverschämtheit von dem berühmten Deutschrapper, dass sie sich so unwohl fühlte, aber irgendwie...sie bekam es nicht zusammen. Und dann war sie so müde...

„Adriana, meine Liebe, geh nach Hause, und schlaf dich aus. Du siehst schrecklich müde aus." Adriana fuhr auf bei dem Klang einer warmen Stimme, die plötzlich an ihr Ohr drang. Gudrun stand hinter ihr und sah mitleidig auf sie hinunter. Adriana räusperte sich.
„Nein, nein, ich...das liegt nur an der Hitze. Ich hab Emilio versprochen, heute mit ihm Fahrradfahren zu üben, und auf irgendwen muss er sich doch verlassen können. Hat Faysal dir sein Bild gezeigt? Übrigens ist Oxana vorhin von der Wippe gefallen, ich hab sie verpflastert, aber vielleicht willst du sie dir nochmal anschauen, sie war vorhin da hinten irgendwo..."

Gudrun sah Adriana dabei zu, wie sie sich aufraffte, um zu Emilio hinüber zu gehen, der seit einigen Minuten eines der kleinen Fahrräder begutachtete, sich alleine aber nicht hinauf zu trauen schien. Die ältere Erzieherin seufzte. Sie waren froh über jeden, der hier herkam, um ohne jede Bezahlung auf die Kinder aufzupassen, aber sie wusste auch, dass Adriana kein leichtes Leben führte. Und sie trotzdem drei Mal die Woche kam, oft übermüdet, manchmal lief sie sogar den weiten Weg, wenn sie gegen Monatsende kein Geld mehr für den Bus hatte. Aber nie war sie den Kindern gegenüber laut geworden, mit einer Engelsgeduld kümmerte sie sich auch um den aufmüpfigsten Racker. Adriana erzählte nie etwas über ihre Arbeit, über ihr Zuhause, den Grund, weshalb sie ihre Heimatstadt verlassen hatte. Wenn Gudrun ehrlich war, wusste sie eigentlich überhaupt nichts über das langhaarige Mädchen.

Sweetest Sin (RAF Camora)Where stories live. Discover now