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Nach kurzer Zeit hatte ich die Begegnung mit Matt wieder verdrängt. Und so saß ich, wie die anderen Tage auch, mit meinen Büchern erneut bei Christian. Ich fühlte mich hier sicher und fast schon wie zuhause. Auch wenn ich immer wieder darüber staunte, dass es Christian war, den ich hier besuchte. Wie oft hatte er mir den letzten Nerv geraubt, mit seinen Sprüchen? Und doch fehlte er mir, wenn ich über Flure des Campus lief. Oder auf der letzten Party. Ich hatte mich so sehr an seine Anwesenheit gewöhnt, dass es mir schwerfiel, ohne ihn zu sein. Ich legte das Buch, welches ich bis eben noch gelesen hatte zur Seite.

»Es wäre dann langsam wirklich mal an der Zeit wieder aufzuwachen. Deine Mutter muss wieder zurück und dein Vater kann auch nicht immer hin und her pendeln.« Ich betrachtete ihn. Aber alles blieb, wie es war, unverändert.

»Sie werden dich nach Seattle verlegen lassen und dann war's das hier, mit deinen ganzen Mädchen.« Vielleicht hatte er ein klein wenig mehr Farbe im Gesicht, aber vielleicht lag es auch nur an der Sonne, die durch das Fenster schien. Oder ich bildete es mir einfach nur ein.

»Okay, du hörst mir jetzt gut zu, eigentlich hast du ja auch keine andere Wahl. Ich sitze nun schon so lange hier neben dir, da wäre es wirklich mal langsam Zeit, ob du mich fragst, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe.«

Ein frustrierter Aufschrei verließ meine Kehle. Es war zum verrückt werden. Nichts, aber auch wirklich nichts schien ihn zurückzuholen. Keiner konnte sagen, warum er einfach nicht wach wurde. Seine Werte waren gut und auch ein weiteres MRT hatte nichts ergeben, was darauf schließen würde, dass etwas nicht stimmte und dennoch wollte er einfach die Augen nicht öffnen.

Es klopfte und ich sah auf.

»Hey, Jen.« Rick hatte seinen Kopf hereingesteckt, er war mittlerweile auch immer mal wieder vorbeigekommen, wohl eher um nach mir, als nach Christian zu sehen. »Versteckst du dich hier mittlerweile?«

Man hatte mich kaum mehr am Campus angetroffen. Was auch nicht schwer war, wenn ich nur zu den Vorlesungen da war und zum Schlafen. Die restliche Zeit verbrachte ich hier oder mit Christians Mutter. Selbst meine Freundinnen sah ich nur selten. Sicher waren auch sie bereits ziemlich genervt von der Situation, auch wenn sie es mir nie wirklich direkt sagen würden.

»Ich frag mich langsam auch, was ich hier eigentlich mache.« Ich streckte meine müden und mittlerweile schmerzenden Knochen. Auch wenn die Schwestern bereits einen weitaus bequemeren Stuhl hierhergestellt hatten, so war es eben immer noch nur ein Stuhl, auf dem ich die meiste Zeit saß.

»Das fragen sich so einige. Es ist ja eigentlich nicht normal, dass man sich so sehr um einen anderen sorgt, wenn einem die Person nicht viel bedeutet.« Er sprach genau das aus, was mir selbst schon lange klar war.

»Gibt es keine psychologische Erklärung dafür?« Ich klang selbst schon ziemlich verzweifelt. Hoffte immer noch, dass es nur ein kurzer Zustand der Unzurechnungsfähigkeit war, der mich hier getroffen hatte. Und sobald er die Augen wieder aufmachte und mir etwas Gemeines an den Kopf warf, würde alles wieder so werden, wie es vorher war.

»Na zu Anfang war es sicher noch der Schock. Aber was dazu geführt hat, dass du dich nun hier verkriechst, muss andere Gründe haben.« Rick hatte sich einen Hocker beigezogen und nahm neben uns Platz. Er sah zu Christian rüber, der weiterhin einfach nur dalag und an dessen Zustand sich einfach nichts änderte.

»Seine Ma tut mir so leid.« Das tat sie mir wirklich. Jeden Tag saß sie an seinem Bett und hoffte darauf, er würde aufwachen. Die Nächte verbrachte sie hier und damit sie nichts verpasste, hatte ich zu Beginn angeboten, hier zu sein, wenn sie sich schlafen legte. Sie wollte gar nicht ins Hotel zurück, aus Sorge, ihr Sohn könnte ihr für immer entgleiten.

»Du bist zu gut für diese Welt, meine Liebe. Aber wie lange soll das noch so gehen? Wenn er gar nicht mehr aufwacht? Was dann?«, seufzte Rick und sah mich nun etwas genauer an und mir war klar, was er mir zu sagen versuchte. Ich hatte bereits viel gelesen und auch schon erfahren, dass es Menschen gab, die trotz stabiler Werte nicht mehr aufwachten und vielleicht auch Jahre im Koma verbrachten. Daran wollte ich nicht glauben. Klar, es war kein leichter Unfall gewesen, aber es gab doch keinen Grund, warum er nicht aufwachen sollte. Andere Menschen hatten weit aus schlimmeres erlebt und kamen vielleicht deshalb nicht mehr zurück. Wer konnte es schon wissen.

»Ich weiß es nicht, aber aktuell kann ich nicht einfach gehen und nicht mehr wiederkommen.« Ich blickte nun auch rüber und prüfte die Maschinen ab, ob ich eine Veränderung bemerkte, doch nichts tat sich.

»Vergiss nur nicht, dass das Leben außerhalb dieses Krankenhauses weiter geht und nicht auf dich warten wird. Ich meine das jetzt nicht böse Jen. Lass dir Zeit und sei hier. Aber vergiss nicht, dein eigenes Leben geht auch weiter.« Rick hatte meine Hand ergriffen und drückte sie kurz. Er machte sich nur Sorgen. Ich war immer diejenige, die etwas zurückgezogener lebte. Das hier war eine weitere Möglichkeit. Da musste ich ihm schon recht geben. Aber er würde nicht verstehen, warum es so war. Ich hatte Gründe. Meine Gründe. Andere verliebten sich, hatten Dates und genossen es neue Leute kennenzulernen oder neue Erfahrungen zu machen oder Dinge zu probieren und ich saß hier und tat nichts als lernen und dabei blieb nicht mal die Hälfte von allem hängen, so dass ich alles mehr als einmal lesen musste.

»Wenn ich könnte, würde ich ihn aufwecken und mich von ihm mit einem dummen Spruch zur Vernunft bringen lassen.«

»Ich hoffe für dich, für ihn und seine Familie, dass es wirklich so weit kommt.«

»Komm, wir gehen einen Kaffee in der Stadt trinken, du hast mich nun deprimiert und ich glaube heute wird sich hier auch nicht mehr viel tun.« Ich erhob mich, um meine Sachen zusammenzusuchen, und Rick nickte.

»Ich warte unten auf dich, such in Ruhe deine Sachen zusammen, nicht das dir morgen eine Hausarbeit fehlt und ich der angebliche Hund bin, der sie gefressen hat.«

»Scherzkeks. Bis gleich.«

Kaum hatte Rick das Zimmer verlassen atmete ich tief durch. Ja, was wäre, wenn Christian wirklich nicht mehr aufwachen würde? Seine Mutter hatte bereits gesagt, dass sie ihn nach Seattle verlegen zu lassen würde. Seine Werte würden es zuließen.

Mit jedem Tag stieg die Wahrscheinlichkeit, dass seine Mutter ihn verlegen ließ und der Gedanke war kaum auszuhalten. Mir war klar warum. Wenn ich hier so saß und ihn betrachtete, dann kamen mir all die Scherze, die meine Freunde auch schon vorher gerissen hatten, all die Sprüche leider gar nicht mehr so abwegig vor. Wie lange hatte ich all das ausgeblendet und es mir nicht anmerken lassen? Wie lange konnte ich mich schon nicht mehr konzentrieren, denn mein Kopf fragte sich nur noch, wann es passiert war und vor allem warum? Wann hatte ich Idiot mich in Mr. Ich-kann-jede-haben verliebt? Oder war es keine wirkliche Verliebtheit, sondern nur eine psychische Reaktion auf all die Geschehnisse? Konnte er nicht aufwachen und mir eine Antwort darauf geben? Ein einziger Spruch von ihm würde schon reichen, um mich wieder klar denken zu lassen. So hoffte ich es jedenfalls.

»Sie zu, dass du aufwachst Freundchen. Denn wenn deine Ma ernst macht und dich mit nach Seattle nimmt, dann hast du keine Möglichkeiten mehr, zu versuchen mit deinen schlechten Sprüchen bei mir zu landen. Dann wird ein Ben Parker kommen und deinen Platz einnehmen. Hast du verstanden? Also mach jetzt langsam mal die Augen auf. Auch wenn du da in deinen Komaträumen mit deinen ganzen Frauen so zufrieden bist. Hier wartet auch noch ein Leben auf dich.«

Es war nicht die feine Art und ich hatte ihn bisher nie so deutlich gebeten, aber es war bitter nötig. Für ihn, für seine Mutter, aber auch ein für mich. Wie immer suchte ich meine restlichen Sachen zusammen, verabschiedete mich, prüfte die Monitore und verließ den Raum, in der Hoffnung, dass er endlich aufwachen würde.

In einem anderen Zimmer ging der Herzalarm und ich sah die Schwestern an mir vorbeieilen. Ein schrecklicher Moment. Denn man wusste genau, was jetzt kommen würde. Wie oft hatte ich zu Beginn Angst gehabt, dieses Geräusch aus Christians Raum zu hören. Ich schrieb Amelia, dass ich mich heute etwas früher auf den Heimweg machte und freute mich schon auf meinen Kaffee außerhalb des Krankenhauses mit einem guten Freund. Jemandem der ehrlich war, aber auch Verständnis hatte, für diese recht außergewöhnliche Situation. Dennoch wollte ich ihn nicht um Rat fragen, oder sagen, welche Erkenntnis ich in den letzten Tagen gewonnen hatte. Das war etwas, was ich erst einmal mit mir selbst ausmachen sollte. Schließlich sprachen wir hier immer noch über den Christian Natherson und jeder wusste, dass das keine Zukunft hatte.

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