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~ Linn ~

"OKAY, DAS REICHT! WIR GEHEN!" schrie ein Vater aufgebracht und sprang auf. Sein kleines Kind nahm er auf den Arm, während seine Frau den älteren Sohn zur Tür raus zog.
"WIR GEHEN AUCH!" rief eine junge Frau dazwischen und verließ mit ihrer Schwester den Versammlungsraum.
"Es tut mir leid, Frank. Aber so geht das nicht mehr weiter.", meinte der Vater von Tina und drehte sich mit seiner Familie dem Ausgang zu.
"LEUTE. LEUTE! BITTE! HÖRT MIR DOCH ZU! BITTE LASST ES MICH ERKLÄREN!", versuchte Frank, der Alpha, die tobende Menge zu beruhigen. Doch nach nur wenigen Sekunden war mehr als Zweidrittel der Rudelmitglieder weg.
Frank drehte sich erschüttert zu seiner Seelenverwandten, Angi.
"Papa, was passiert hier?", fragte ich geschockt meinen Vater, während ich mich an dem Arm meiner Mutter hängte. Wir sind neben Frank und Angi als einzige noch übrig geblieben.

"Es tut mir leid, Linn. Ich wollte nie, dass es so weit kommt. Aber mit sofortiger Wirkung ist mein Rudel aufgelöst.", sagte mir Frank unter Tränen, während er mich und meine Eltern zur Tür rausschob.

Zwei Monate war es her. Vor genau 60 Tagen löste sich mein Rudel auf.
Seit acht Wochen zogen die ganze Zeit meine alten Rudelfreunde und deren Familien weg. Ohne sich zu verabschieden, oder mit mir zu reden.
Seit acht Wochen trauere ich alleine in meinem Zimmer, während meine Eltern auch unseren Umzug organisieren, aber zumindestens bleiben wir noch in derselben Stadt.

Ich habe meine Freunde verloren, mein Rudel, meinen Fels in der Brandung.

Ich zog meine Knie an mich, während ich neben meinem Bett am Boden sitze und das Bild an meiner Wand anschaue. Tina und Laura, meine beiden Freundinnen schauten mich lächelnd an. Tina und Laura, meine besten Freundinnen in der Schule, im Alltag und im Rudel. Und jetzt sind beide spurlos weg.

Ich betrachtete mein Aussehen im Bild. Meine karamellfarbenden Augen strahlten mir entgegen, während mein langes, dunkles Haar locker von meinem Kopf herabhing. Meine Haut ist schon immer relativ eben gewesen, und weder besonders käseweiß, noch gebräunt.

Seufzend stand ich auf und verließ mein Zimmer. Ich hörte Mama und Papa im Wohnzimmer über das neue Haus reden. Es befand sich auf der anderen Seite der Stadt, aber dennoch nicht weiter von meiner Schule und ihren Arbeitsplätzen entfernt, als unser Haus jetzt.

Ausatmend ging ich Richtung Bad und wich den schon vorgepackten Umzugskartons auf dem Gang aus. Als ich den einen Karton vor der Badezimmertür sah, verließ mich meine Kraft und ich ging wieder in mein Zimmer zurück.

Genau in dem Moment vibrierte mein Handy und ich bekam angezeigt, dass eine Person aus meiner Klasse seit langem Mal wieder etwas auf Instagram gepostet hat. Gelangweilt entsperrte ich mein Handy und likte den Beitrag von Amy Reserva. Ich meine, warum auch nicht? Sie ist schön und nett, zu mindestens kommt es mir so in der Klasse vor.

Meine Tür wurde langsam geöffnet und beide Köpfe meiner Eltern tauchten auf.
"Wir haben einen Anruf bekommen, dass wir die Schlüssel für das neue Haus abholen können", sagte mein Vater.
"Kommst du mit zu einer Besichtigung?", fragte meine Mutter sanft.

Den Verlust unseres Rudels hat sie genauso stark getroffen wie mich, aber sie sind beide unglaublich starke Kämpfer, weswegen sie mit der neuen Situation auch gut auskamen. Ich eher weniger.
Emotionslos schaute ich zurück auf das Bild mit Tina und Laura. Bin ich schon bereit dafür? Dafür riesige Teile meines Lebens zurückzulassen?

Meine Mutter ging an mir vorbei und hing kurzerhand das Bild von der Wand ab, nur um es umgekehrt auf meinen Tisch zu legen.
Warm lächelnd nahm sie meine Hand.
"Komm schon Linn."
Seufzend gab ich nach und schmiss mein Handy in meine kleine, schwarze Tasche.
Ausatmend schaute ich von Mama zu Papa und meinte: "Meinetwegen."

Keine zehn Minuten später saßen wir im Auto und waren auf dem Weg zur anderen Seite der Stadt. Während mein Vater vorne fuhe, haderte meine Mutter mit dem Navigationsgerät.

Als wir an einer roten Ampel ankamen, nahm ich mein Handy aus der Tasche und entsperrte es schnell. Mir wurde noch immer der neuste Instagram Beitrag von Amy angezeigt, nur wurde der bis jetzt noch öfter geliket worden und es fanden sich ein paar Kommentare darunter.
Amy ist vom Typ her kommunikativ und eher unauffällig, aber sie hat viele Freunde, darunter auch die größten Möchtegernmachos der Schule. Noah und seine Freunde. Ich lehnte meinen Kopf an die Autotür an und schaute mir ihren Beitrag nochmal genau an. Sie sitzt dabei auf einem Geländer und lehnt sich lächelnd etwas nach vorne während sie von der Kamera aus gesehen nach links schaut. Ihre welligen blonden Haare erhellten ihr Aussehen, während ihre graublauen Augen strahlen.
Genauso wie meine früher.

Irgendetwas zog mich zu ihren Kommentaren hin und ich begann sie durchzulesen. Das meiste waren nur Herzen oder Flammenemojis. Doch ein Kommentar stach heraus. Das Profil gehört Jason, dem zweitgrößten Möchtegerner der Schule und bestem Freund von Noah.
"Ich glaube du strahlst so sehr, weil du mich gesehen hast, Ames ;)"
Amys Antwort darauf war ein simples:
"Träum weiter."
Worauf Jason konterte:
"Gerne. Mit uns in den Hauptrollen, Kleines. ;)"

Überfordert schloss ich Instagram und sah aus dem Fenster hinaus, doch wir waren schon angekommen.

Das Haus befand sich in einer Siedlung, die sich auf einer höheren Meeresspiegelhöhe als die Stadt und unser altes Haus befand. Man konnte theoretisch gesehen von der Siedlung in die Stadt hinab schauen. Die Siedlung ist umgeben von Wald. Die Einfahrt in die Siedlung ähnelt einem riesigen Labyrinth, da die Hauptstraße viele Biegungen und Kurven aufweist. Papa hält das Auto vor einem zweistöckigen, beigen Haus mit nebenstehender Garage an. Und es kommt mir so vor, als wären wir im Mittelpunkt der Siedlung.
Nachdenkend schaute ich mir die Nachbarschaft an, während ich aus dem Auto stieg. Die Häuser rund um uns waren in allen Formen und Varianten zu haben.

"Na los, komm", sagte meine Mutter aufmunternd, als sie sich bei mir einhackte und mich sanft zur Tür zog.

"Wie stellt ihr euch das eigentlich vor?", meinte ich besorgt, nachdem wir das Haus betraten und die Tür geschlossen haben. "Wir ziehen in eine neue Gegend, okay. Aber wo sollen wir uns verwandeln? Der Wald hier könnte von bösen Wolfsrudeln besetzt sein. Sollen wir dann jedes Mal in unsere altes Waldgebiet fahren und uns dort verwandeln? Und was ist wenn die Nachbarn uns hier auf die Schliche kommen? Früher hatten wir nur Werwölfe und Rudelmitglieder unter uns."

Mein Vater atmente nachdenklich aus und sah mich mit einem leichten Lächeln an. "Wir brauchen einen Neustart, um uns an die neue Situation zu gewöhnen. Für den Anfang würde ich vorschlagen, dass wir zum Verwandeln in unser altes Territorium gehen und mit allerhöchster Vorsicht vorgehen, du vor allem."
"Das Gebiet hier müssen wir mit gespitzen Ohren und Augen betrachten", mischte sich meine Mutter ein. "Wir können jetzt nur noch uns trauen, bis wir kein anderes Rudel finden oder andere Werwölfe."
"Und bis dato werden wir unser eigenes Rudel sein. Ich werde der Alpha sein, deine Mutter mein Beta und du, Linn, bist unser Gamma.", sagte Papa und zog mich und Mama in eine große Umarmung.
"Gemeinsam werden wir das schaffen oder was?", meinte ich und betrachtete das neue Wohnzimmer und die neue Küche mit Bedenken. Alles war voller morschen Holzmöbeln oder alten Möbelstücken.

Langsam ging ich die eher schmalen Stufen hoch, während Mama die Küche inspizierte und Papa das Wohnzimmer plante.
Die erste Tür auf der linken Seite war das Schlafzimmer meiner Eltern, erkennbar an dem Doppelbett in der Mitte des Raumes. Ich schloss die Tür und ging weiter. Die Tür neben dem Schlafzimmer führte in ein kleines Bad, die Tür gegenüber versteckte ein kleines Klo.
Auf den Fersen umdrehend sah ich auf die rechte Seite des Ganges, sie war kürzer als die linke und hatte nur eine Tür.
"Ich schätze mal, dass da mein Zimmer ist", flüstere ich mir selbst zu und legte eine Hand auf die Türklinke, als plötzlich eine laute Klingel ertönte und mich ruckartig meine Hand von der Klinke wegziehen ließ.

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