Kapitel 16

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Owen spürte eine Leere, als er den Klassenraum zu seinem Geschichtsunterricht betrat und das schöne Gesicht, das er noch vor zwei Tagen sanft berührte, nicht finden konnte.

Angespannt setzte er sich auf den freien Platz neben Matt, der seinen Kopf auf seinen Armen liegen hatte und anscheinend noch ein kurzes Nickerchen hielt.

Der freie Platz vor ihm besorgte ihn. Wo war sie nur? Sie war die einzige, die noch fehlte und die Schulglocke würde gleich klingeln.

Owen begann mit seinem Bein zu wippen, als er die Uhr über der Tür beobachtete. Die Zeiger bewegten sich seiner Meinung nach langsamer als sonst.

Er überlegte sich schon von seinem Plastikstuhl aufzustehen und in den Gängen nach Amber zu schauen, als sie plötzlich in der Tür stand. Sie schien es nicht zu kümmern, dass sie fast zu spät kam, als sie langsam auf ihren Platz zuging und ihre Sachen zurechtlegte.

Ihre honigblonden Haare waren heute in einem Zopf geflochten, ein Kapuzenpulli bedeckte ihren Rücken. In der Schule war es zwar durch die Klimaanlage recht kühl, doch Owen wunderte sich, wieso sie im Spätsommer schon einen dicken Pulli trug. Schließlich lebten sie in Tennessee, der Sommer war lange warm.

Die Lehrerin begann den Unterricht, doch Owen bekam davon nichts mit. Zu sehr war er damit beschäftigt Ambers Rücken anzustarren. Sie lehnte ihren Kopf auf ihrer Hand ab und kritzelte auf ihrem Notizheft herum. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht, das war Owen klar. Erst kam sie fast du spät du dann saß sie gelangweilt vor ihm. Bei jedem anderen Fach hätte er das ja vollkommen nachvollziehen können, aber doch nicht bei Geschichte. Noch am Freitag hatte er erfahren, dass sie unbedingt dieses Fach studieren wollte und auch sonst sah er sie immer nur gut gelaunt vor sich sitzen.

Das Geräusch von einem Stapel Papiere, das auf seinen Tisch fiel, holte ihn aus seinen Gedanken. Überrascht sah er zu dem Stapel, der nun vor ihm lag. Na toll, es waren die neuen Aufgaben für die Woche. Wenn er Amber nicht schon so mögen würde, würde sie sich spätestens durch die Aufgaben beliebt bei ihm machen. Die Antworten von letzter Woche hatte sie jedes Mal so schnell im Unterricht hin gekritzelt, dass die ganze Gruppe nach der Schulzeit nichts mehr bearbeiten musste. Ein Traum-Gruppenmitglied also.

„Findet euch bitte in euren Gruppen zusammen und beginnt mit den Aufgaben für diese Woche", verkündete die Lehrerin und setzte sich wieder hinter ihren Pult.

Owen trommelte mit seinen Fingern auf der Tischplatte, als Jessica und Amber sich zu ihnen umdrehten. Ambers Gesicht trug dunkle Ringen unter den Augen. Besorgt beobachtete er sie, doch ihre Blicke fanden seine nicht. Ihr Blick war stets nach unten gerichtet, als sie ihren Stuhl endlich abstellte und nun direkt gegenüber von Owen saß.

„Na, aufgewacht?", fragte Jessica Matt lachend, der sich die Augen rieb. Als Antwort bekam sie nur ein Brummen.

„Statt nur Freitag zu trinken, habe ich Samstag und Sonntagmittag gleich weiter gemacht", murmelte Matt und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, während er seine Augen wieder schloss.

Jessicas und Matts Unterhaltung interessierte Owen herzlich wenig. Gekonnt blendete er ihre Stimmen aus und blickte wieder zu Amber. Sie nahm sich bereits den Aufgabenstapel vor und blätterte müde durch die Seiten.

„Alles gut bei dir?", fragte er sie leise, um nicht die Aufmerksamkeit der anderen Gruppenmitglieder auf sie zu lenken. Doch Jessica und Matt waren so mit ihren Erzählungen vom Wochenende beschäftigt, dass sie womöglich nicht mal mitbekommen hätten, wenn Owen geschrien hätte.

Amber nickte, ihre Augen sahen immer noch auf die zu beantwortenden Fragen. „Ja, ja", sagte sie nur knapp.

Owen wusste, dass sie ihn anlog. Wieso konnte sie ihn nicht mal anschauen? Lag es an ihm?

Mit seinem Schuh berührte er sanft ihr Schienbein unter dem Tisch, doch auch das brachte ihm nicht die erhoffte Aufmerksamkeit.

„Amber", sagte er nun lauter, was nicht nur Amber dazu brachte ihn anzuschauen, sondern auch Jessica und Matt. Doch er ignorierte alle anderen, für ihn gab es im Moment keine Schule, kein Geschichte und keine Gruppenarbeit, sondern nur Amber.

Sie sah ihn fragend an. „Was?", flüsterte sie, ihre Wangen verfärbten sich in ein helles Rosa.

„Was ist los?"

Amber zuckte nur mit den Schultern und sah wieder auf das Aufgabenblatt. „Ach nichts, habe nur verschlafen", murmelte sie.

Owen ging nicht weiter darauf ein. Sie sah definitiv müde aus, es lag also nahe, dass sie verschlafen hatte. Auch den Zopf, der langsam auseinanderfiel und der zerknitterte Pulli deutenden darauf hin, dass sie einfach zu spät aus dem Bett gekommen war. Doch Owen hatte das seltsame Gefühl, dass noch mehr dahintersteckte.

Die vier saßen die komplette Schulstunde über schweigend am Tisch und beantworteten die Fragen. Eine Stimmung der Ungewissheit legte sich über sie. Doch keiner wollte sie brechen.

Sie Schulglocke signalisierte das Ende der Stunde und keine paar Sekunden später war Amber schon aus dem Klassenraum verschwunden. Owen sah ihr fragend nach, als er seine Sachen zusammenpackte. Er sah zu Jessica und Matt, die ihr auch nur verwirrt hinter herschauten.

„Ich schaue mal, ob ich die noch im Gang einholen kann", sagte Jessica und verschwand genauso schnell aus der Tür, wie es Amber noch wenige Sekunden zuvorgetan hatte.

„Mann, ich weiß, dass ich noch Alkohol im Blut habe, aber irgendwas war heute komisch, oder?", fragte Matt und warf seinen Rucksack über die Schulter.

Owen konnte nur nicken, als er mit Matt an seiner Seite den Klassenraum verließ und zu seinem nächsten Unterricht lief.

Die Fragen in seinem Kopf wurden nur noch mehr. Der Gedanke, dass Ambers Verhalten etwas mit den Momenten, die sie Freitag bei ihm im Auto verbracht hatten, lies ihn nicht los. Wenn er daran dachte, wie sie im Mondlicht neben ihm saß und ihn mit großen Augen ansah, spürte er ein Kribbeln, das er niemals verlieren wollte.

Doch als Amber weder beim Mittagessen, noch nach der Schule am Footballfeld aufkreuzte, wusste er, dass sie nicht dasselbe für ihn fühlte.

Hail Mary | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt