Kapitel 21

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Amber saß in ihrem Auto, als ein Brummen aus ihrer Tasche sie aus ihren Gedanken losriss. Hektisch griff sie zu dem Rucksack auf ihrem Beifahrersitz und kramte nach ihrem Handy. Als sie das schwarze Rechteck endlich in ihrer Hand hielt, stockte ihr Atem.

Sie wurde angerufen. Von Owen.

„Hey", sagte sie mit leichter Stimme, als sie das Handy an ihr Ohr hielt.

„Sorry, dass ich vorhin einfach weggefahren bin", hörte sie seine tiefe Stimme sagen. Er redete so schnell, dass sich seine Worte miteinander vermischten.

„Kein Thema, ich war doch auch schon so gut wie auf dem Heimweg", versicherte sie ihm, als sie die Haustür entriegelte und in das große Wohnzimmer lief. Sie ließ sich auf die weiße Couch fallen, das Handy noch immer fest an ihr Ohr gedrückt.

„Wolltest du mich wirklich nur deswegen anrufen?", fragte sie. Ein Lächeln wanderte auf ihr Gesicht, als sie sich erhoffte, dass er anrief um einfach nur ihre Stimme zu hören.

Auf der anderen Seite der Leitung räusperte sich Owen kurz. „Bist du morgen beim Spiel?"

„Ja."

„Hast du Lust zusammen hinzugehen?", fragte er.

Ambers Lächeln wurde nur noch größer. „Ich treffe mich dort mit Jessica, aber du kannst dich ja zu uns setzten."

„Ok, ich schreib dir, wenn ich da bin." Amber hörte das Lächeln in seiner Stimme, als sie sich verabschiedeten und sie die rote Taste auf ihrem Display drückte.

Einen Augenblick lang lag Amber einfach nur auf der viel zu großen Couch. Die Kissen waren nur zur Deko da, sodass sie sie nicht mal benutzen durfte um sich gemütlicher hinzulegen. Selten war sie im Wohnzimmer, normalerweise zog sie sich immer in ihrem Zimmer zurück. Doch im Moment gab ihr das kahle Zimmer eine Ruhe. Sie konnte keine Stimmen hören. Keine Bemerkungen. Keine Anweisungen.

Sie wusste, dass sie nachdem sie das Turnen aufgab in ein Loch fallen würde. Sie hatte nichts mehr zu tun. Kein Training, keine Wettbewerbe und die Anmeldungen fürs College waren auch schon raus. Ihr blieb also nichts Anderes übrig als zu warten. Warten, bis der Tag rumgeht und warten, bis die Highschool endlich vorbei war und sie aus ihrem Elternhaus ausziehen konnte. Rein in ein neues Abenteuer, das was sie sich immer erträumt hatte.

Das Geräusch vom Schloss der Haustür riss sie aus ihren Tagträumen. Sie setzte sich ruckartig aufrechter auf die Couch, um die Haustür sehen zu können.

Ihr Blick traf den ihres Vaters, als er die Tür wieder ins Schloss fallen ließ. Sein Anzug war schon fast seine Uniform, keiner außer seiner Familie sah ihn je in einer anderen Kleidung. Seine dunklen Haare lagen perfekt frisiert auf seinem Kopf.

„Du bist heute früh zuhause", stellte Amber fest, als sie kurz zur Uhr schaute. Normalerweise war ihr Vater bis spät abends im Büro, selbst ein gemeinsames Abendessen gehörte zur Ausnahme. Dass er nun das Haus betrat, als es noch hell war, verwirrte Amber.

Er stellte seine Aktentasche an der Tür ab und schaute kurz zu Amber rüber. „Heute gab es ausnahmsweise Mal weniger zu tun. Ich muss allerdings später nochmal von zuhause aus arbeiten", versicherte er ihr und ging ein paar Schritte ins Wohnzimmer.

Ihr Vater kam ihr manchmal nur wie ein Familienfreund vor. Es gab Tage und Wochenenden, an denen sie ihn gar nicht zu sehen bekam. Er überließ die ganze Erziehung Ambers Mutter und hatte keinen blassen schlimmer, was Amber tatsächlich beschäftigte. Alles, was ihm die Mutter erzählte, war für ihn Informationen genug.

„Ich habe mit einem alten Freund telefoniert", begann er und stellte sich mit verschränkten Armen mitten ins Wohnzimmer. „Wir kennen uns noch von unserer Studienzeit bei Vanderbilt. Er arbeitet jetzt für das Stipendienprogramm der Uni und ich habe ihm mal von dir erzählt. Er war ganz begeistert und wird dich demnächst für ein Interview wegen eines Stipendiums einladen."

Amber beobachtete ihn, während er aus dem Fenster schaute. Die Nachmittagssonne warf noch ein paar Schatten auf den gepflegten Vorgarten, bevor sie in wenigen Stunden verschwinden würde.

So war es zwischen ihnen. Er erzählte ihr wie bei einem Geschäftsmeeting, was sie tun sollte und Amber gab keine Widerworte.

„Ist das Stipendium für Wirtschaftswissenschaften?", fragte sie leise. Ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie begann mit ihren Fingern zu spielen.

„Aber natürlich!" Mit stolzgeschwellter Brust sah ihr Vater sie an. „So, ich muss noch jemanden anrufen, zum Abendessen schaffe ich es hoffentlich", fügte er hinzu und war auch schon auf dem Weg zu den Treppen, die zu dem Hauseigenen Büro führten.

Amber wartete noch ein paar Sekunden, bevor sie es ihm gleichmachte und die Treppen hoch zu ihrem Zimmer lief. Ihre Mutter und Schwester würden bald vom Training zuhause sein. Da wollte sich Amber auf keinen Fall im Erdgeschoss blicken lassen.

Sie ließ die weiße Holztür hinter sich ins Schloss fallen und warf sich auf ihr Bett. Amber versank in den vielen Kissen, die sie hier wenigstens auch benutzen konnte. Ein flauschiges rosa Kissen, das auf ihrer Hüfte landete, nahm Amber in die Arme und drückte es an ihre Brust. Erst, als die warme Flüssigkeit über ihre Wange lief, merkte sie, dass sie weinte.

Knapp zwei Wochen hatte sie seit Beginn ihres letzten Schuljahres hinter sich gebracht. Ein Schuljahr, dass eigentlich langweilig sein sollte. Sie wollte nur ihre Zeit absitzen, ihren Eltern so spät wie möglich von ihren Studienplänen erzählen und dann einfach abhauen. Egal wohin. Ob nach Vanderbilt oder irgendein anderes College, für das sie sich beworben hatte.

Doch nun wurde ihr bewusst, wie schwer allein diese Aufgabe wäre. Sie hatte Angst. Angst vor der Reaktion ihrer Eltern, wenn sie sich wieder gegen ihre Vorstellungen entscheiden würde. Erst hatte sie ihre Mutter enttäuscht, als sie das Turnen aufgab. Jetzt würde sie nicht nur ihre Mutter, sondern beide Elternteile enttäuschen, wenn sie ihre Bewerbungsunterlagen fürs College sehen würden.

Amber drehte sich auf den Bauch und vergrub ihr Gesicht in dem Berg aus Kissen. Sie versuchte ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, an das Gute zu denken. An Jessica, wie sie Amber wie eine verlorene beste Freundin aufnahm. An die Footballmannschaft, die sie behandelten, als wäre sie schon immer ein Teil der Freundesclique gewesen. Und an Owen, der ein Kribbeln in ihrem Körper verursachte, dass sie nie verdrängen konnte und wollte.

Owen, den ihre Eltern nicht ausstehen konnten und nicht gemeinsam mit ihrer Tochter sehen wollten.

Hail Mary | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt