41) Die Jagd

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Die Zeit tickt langsam, wenn man nichts zu tun hat. Bisweilen erhält man sogar den Eindruck, sie würde rückwärts laufen. Ich weiß nicht, wie lange ich schon an Tenebris Seite sitze. Regungslos, wie ein dienstbefließener Museumsaufseher. Die einzige Unterbrechung besteht darin, mir alle paar Minuten einen Finger abzulecken und vor Tenebris Lippen zu heben. Nicht sichtbar und auch nur kaum spürbar, aber er atmet.

Aber auch dem eifrigsten Aufseher wird langweilig, wenn kein Besuch kommt oder nichts geschieht. Keine Statue erwacht zum Leben, kein zweites Nachts im Museum. Eigentlich reicht es mir auch an Aufregung.

Irgendwann stehe ich auf und strecke mich. Mache ein paar vorsichtige Schritte, nur bis zur Wand und wieder zurück. Dann sitze ich wieder auf meinem Stuhl und warte. Neben mir steht Aljans Stuhl, leer. Die Leere stört mich. Ich bin ihm nicht böse, dass er mich verlassen hat, aber er fehlt mir. Ich verstehe ja, warum er gehen musste, auch wenn es mir nicht gefällt. Nach einer weiteren Fingerkontrolle lege ich meine Füße auf das Sitzpolster des zweiten Stuhls. Immerhin ist er jetzt nicht mehr leer und ich sitze nicht mehr so steif da.

Andererseits geht dadurch die Zeit auch nicht schneller vorüber. Immer wieder fällt mein Blick zu dem Durchgang, durch den Aljan verschwunden ist. Wie lange es wohl dauern wird, bis er wiederkommt. Bis er seine Brüder gefunden hat? Werden sie mit ihm zurückkehren? Ich hoffe, dass es ihm schnell gelingt, aber ich hoffe auch ein wenig, dass sie sich weigern, ihn zu begleiten. Wie lange ist er schon weg? Ich habe inzwischen jegliches Zeitgefühl verloren. Ich weiß nicht einmal, wie die Zeit in der Hölle vergeht, ob sie überhaupt weiterläuft. Gibt es eine höllische Zeit, analog zur irdischen Zeit? So vieles, das ich nicht weiß. So vieles, von dem ich nicht einmal annähernd eine Ahnung habe.

Irgendwann ziehe ich die Füße zu mir, stelle sie auf den Boden und stehe auf. Genug gesessen. Dieses Mal führen mich meine Schritte weiter von Tenebris fort und ich habe den Durchgang zum Eingangszimmer erreicht. Er hat bis jetzt nicht aufgehört zu atmen, er wird es auch weiterhin nicht tun. Und wenn? Was sollte ich tun? Den Fürst der Finsternis Mund zu Mund beatmen? Mich schaudert bei dem Gedanken. Aber Aljans Sorgen waren echt. Sein Vater kann also sterben. Noch etwas, dass ich nicht weiß. Der alte Mann hat sich nicht einmal geregt, er wird kaum merken, wenn ich nicht mehr brav an seiner Seite sitze.

"Ich bin gleich zurück", rufe ich trotzdem in den Raum hinter mir. Dann laufe ich über die Schachbrettfliesen. Einen Fuß auf Schwarz, einen Fuß auf Weiß. Ich achte kaum auf den Weg, nur auf die wechselnden Fliesenfarben. Ein Feld vor, eins schräg, eins zur Seite, eins vor. Der König beim Schachspiel darf immer nur ein Feld weiter ziehen, die Dame hingegen so weit ihr Radius reicht, gerade wie diagonal. Die wahre Macht liegt bei der weiblichen Figur. Sie beschützt ihren König. Dessen Tod beendet zwar das Spiel, aber die Dame ist mächtiger.

Wo liegt also die richtige Macht? Nicht mehr beim Erschaffer dieser Höllenreiche, soviel steht fest. Aber wie ich es auch drehe und wende, ich weiß einfach zu wenig über die Gesetzmäßigkeiten.

Die Fliesen enden am Fuß der Treppe und ich weiß nicht mehr weiter. Das Portal auf den Gang ist geschlossen. Ich lausche kurz, weder von drinnen noch von draußen ist etwas zu hören. Auch oben ist alles ruhig. Wir sind alleine. Tenebris zählt im Moment nicht wirklich als Gesellschaft. Einen Moment verharre ich, dann setze ich einen Fuß auf die erste Marmorfliese. Der erste Schritt ist der Schwerste. Der Zweite fällt mir schon leichter. Ich möchte wissen, was sich dort oben befindet. Und falls Aljan ausgerechnet jetzt zurück kommt, dann lehne ich mich lässig auf die Brüstung und begrüße ihn, behaupte, mir nur die Füße vertreten zu wollen. Es ist keine Lüge. Ich bin fast oben und die Tür hat sich nicht geöffnet. Das käme mir auch zu filmreif vor. Ausgerechnet jetzt und ausgerechnet dann.

Auch auf dem Absatz der von der linken zur rechten Treppe führt, setzt sich das Schachbrettmuster der Fliesen fort. Von dem kurzen Gang selbst, zweigen drei Türen ab. Die beiden äußeren sind weiß, die mittlere schwarz. Die Wand ziert eine Art Tapete mit Szenen einer Jagd. Mehrere Reiter auf weißen und schwarzen Pferden vor einer Waldkulisse. Auf den Ästen sitzen Vögel mit spitzen Zähnen und tierähnliche Wesen mit zu Fratzen verzogenen Gesichtern. Aus den Büschen schauen mich Fabelwesen an. Einer der Reiter bläst in ein Horn, ein anderer hält einen gespannten Bogen in der Hand und zielt auf etwas. Je länger ich die Szene betrachte, desto mehr Details kann ich entdecken. Ich wende mich ab und lehne mich an das vergoldete Geländer. Bereit, meine Lüge in die Tat umzusetzen, sollte jetzt die Tür aufgehen. Was sie aber nicht tut.

Die Zeit der Untätigkeit und des Wartens zeigen ihre Wirkung. Ich muss irgendetwas tun. Mein Wissen erweitern. Nur einen Blick. Schon stehe ich vor der mittleren Tür. Presse mein Ohr gegen das schwarze Holz und lausche. Nichts zu hören. Ein letzter Blick zum Portal unten. Auch nichts. Ich fasse nach dem Türgriff und drücke die Klinke herunter. Nur einen Blick, mehr nicht. Wahrscheinlich ist die Tür sowieso abgeschlossen. Ist sie aber nicht. Lautlos lässt sie sich öffnen und nach innen schieben. Für einen Moment ist alles dunkel. Dann dämmert mir, was ich da sehe. Eine weitere Tapete. Dieses Mal umspannt sie den ganzen Raum, von der Wand links der Tür bis zur Wand rechts davon. Nur am Ende des rechteckigen Raumes steht eine Art Altar, ähnlich dem, auf dem Tenebris aktuell liegt. Der, wenn mich mein Orientierungssinn nicht wieder täuscht, direkt unter diesem liegen müsste. Der Raum ist nur wenige Meter breit, aber etwa so tief wie der untere Raum. Auch auf diesem Altar liegt ein weißes, bodenlanges Tuch, aber obendrauf liegen mehrer Bücher. Ich ignoriere die Szenen der Tapete, sie wirkt viel zu düster und bedrohlich und gehe auf den Tisch zu. Auf einem Pult liegt ein vergoldetes Buch. Aufgeschlagen irgendwo in der Mitte. Links zeigt es einen Goldschnitt und rechts steht ein Text in einer alten Handschrift, die ich nur schwer entziffern kann.

Eine Heerschaft zieht über den winterlichen Nachthimmel. Ein von Mythen umrankter Geisterzug: das wütende Heer oder das Heer der Verfluchten. Der Name geht zurück auf den germanischen Göttervater Wotan oder Odin.

Odins Jagd, Fahrt nach Aaskereia oder die wilde Hunt - viele Namen für eine Legende. Besonders in den zwölf Rauhnächten zwischen dem Christtag und dem Dreikönigstag, wenn das Portal zum Geisterreicht offen steht. Keiner kennt mehr den Namen ihres Anführers. Doch in ihrem Schatten bringen sie Krankheiten, Katastrophen, Unheil und TOD.

Aller guten Dinge sind zwölf, dann ist der Spuk vorrüber. Denn vor der Dreizehn hab Acht.

Wissen erhellt nicht immer und hilft auch nicht weiter. Im Gegenteil, es lässt mich zittern. Mir ist mit einem Mal eiskalt. Ich muss hier raus. Ohne auf die Darstellungen links und rechts zu achten, renne ich auf die noch immer offen stehende Tür zu. Ich atme erst auf, als sie hinter mir ins Schloss fällt und ich draußen auf den Schachbrettfließen stehe. Unten ist das Portal noch immer geschlossen. Ein paar Mal atme ich aus und ein. Werfe einen Blick zurück. Wie bedrohlich die Tür wirkt. Es hätte mich nicht überraschen sollen. Nicht mehr.

Als auch nach mehreren Minuten noch keine wütende Reiterschar über mich hereinbricht, sich weder die Jagdtapete hinter mir noch das Portal unten bewegt, beruhige ich mich. Noch zwei Türen. Was mich wohl hinter weißen Türen erwartet? Ich rechne mit allem. Nur aufmachen und hineinschauen, mehr nicht. Die linke zuerst. Ich strecke meine Hand aus.

Brennende Feuer - Dunkle SchattenWhere stories live. Discover now